hntrlnd » Sochi http://www.hntrlnd.de Lenin, Leute, Brot und Spiele Fri, 27 Jun 2014 19:11:05 +0000 de-DE hourly 1 http://wordpress.org/?v=3.8.1 Sotchi – Jerewan http://www.hntrlnd.de/?p=737 http://www.hntrlnd.de/?p=737#comments Fri, 09 May 2014 06:02:17 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=737 Im armenischen Baumarkt habe ich nach langem Suchen endlich die Abteilung mit den Stichsägeblättern gefunden. Diese brauchte ich, um ein fehlerhaftes und dauerhaft knarrendes Brett in den Fußbodendielen unseres Schlafzimmers zu beschneiden, denn der Besitzer des Hostels hat nur eine Stichsäge, keine Sägeblätter. Ich stelle fest, dass ich kein Geld bei mir habe und nehme mir vor, die Sägeblätter zu stehlen, das kann ich gut, denn ich stehle ja oft. Auf dem Weg zur Kasse finde ich in einem der unteren Regale noch schöne, glänzende Glasmurmeln, ich stecke mir noch vier davon ein, eine ist leider zu groß für meine Hosentasche und so fällt sie mir auf dem Weg an der Kasse vorbei auf den Steinfußboden und zerbricht. Der Polizist am Eingang bemerkt natürlich mein schuldbewusstes Gesicht und nimmt mich mit auf die Wache. In diesem Moment klappert die Tür des Nachbarzimmers in unserem Hostel und ich wache auf. Wieder mal totalen Mist geträumt.

Flughafen Sotchi - wie alles hier ein wenig zu leer

Flughafen Sotchi – wie alles hier ein wenig zu leer

Um nach Armenien zu kommen, genauer gesagt nach Jerewan, müssen wir erst mal aus Russland, genauer gesagt aus Sotchi, raus. Unser Pässe werden viereinhalb mal kontrolliert, ein halbes mal freundlich, der Rest besteht aus kritischen Blicken und Fragen, was wir in Armenien wollen und warum wir in der Ukraine waren. Besonders Jens wird auseinandergenommen, weil er versucht, möglichst korrekt auf die Fragen in russischer Sprache zu antworten, ich stelle mich doof, frage einfach immer „In english please?“ und werde in Ruhe gelassen. Danke, Max Demian. Auf der Toilette, auf der ich nochmal schnell pinkeln gehe, riecht es, als habe ein ganzes Bataillon der russischen Armee seine letzte Rauchpause vor der Invasion der Ukraine gemacht. Ein alter, russischer Mann erbricht sich ins Waschbecken neben mir. Als ich ihn frage, ob er vielleicht Hilfe braucht, schaut er mich an, als ob ich ihn bestehlen will und erbricht sich wie selbstverständlich ein weiteres mal. Händewaschen fällt also diesmal aus. Das Flugzeug, ein Airbus A 319, ist nur zu einem Drittel gefüllt, die hübschen Stewardessen bedienen die drei Herrschaften in der Business- Class und die Oma, die kurz vorm Flug einen Kreislaufkollaps bekam und deren Mitflug nur Dank des Heulens ihrer Tochter doch noch zugelassen wurde. Wir hingegen bekommen unsere Getränke von Igor und Anton, das denke ich mir nicht aus! Das Brötchen, das sie uns als Snack zum Tomatensaft reichen, hat drei Scheiben Fleisch und ein Stück Gurke als Inhalt, Vegetarier bleiben eben hungrig. Zum Glück hat uns Igor zuvor noch die Sitze am Notausgang zugewiesen, da muss wohl immer jemand sitzen, wir haben doppelte Beinfreiheit, die drei Girls hinter uns instagrammen fleißig und kichern, wenn wir uns umdrehen, bei der Landung klatschen die Passagiere, der deutsche Pauschaltourismus hat sich also durchgesetzt. Nur noch nicht bei mir.

Blick übers Zentrum von Jerewan

Blick übers Zentrum von Jerewan

Jerewan erwartet uns heiß und freundlich. Eine winzige Kontrolle, schon stehen wir am Taxistand. Die letzte christliche Bastion vor der muslimisch geprägten Pufferzone zwischen Europa und Asien, gemeinhin als Kaukasus bekannt, will uns gleich mit dem dreifachen Fahrpreis abzocken, was auch klappt – zum letzten Mal, denn danach fahren wir nur noch mit Kleinbussen für ca. 20 Cent pro Fahrt. Sobald unsere Mitfahrer unsere Unkenntnis der armenischen Sprache bemerken, wird uns anstandslos geholfen, die richtige Station zu erwischen. Interessant ist auch, dass man nicht beim Einstieg bezahlt, sondern erst beim Ausstieg, was ein gehöriges Grundvertrauen voraussetzt, welches von allen, wirklich allen Fahrgästen wie selbstverständlich erfüllt wird; mir erscheint das als gesellschaftliche Verabredung.

In der Metro. Eine Linie, immer hin und her. Alles glänzt.

In der Metro. Eine Linie, immer hin und her. Alles glänzt.

Neben den tausend Bussen in zig Formen, Farben und Altern besitzt Jerewan eine einzige U-Bahn-Linie, ein Überbleibsel aus der Zeit, in der dies hier noch die Armenische SSR war, und so wie es aussieht, das letzte, denn ansonsten finde ich nichts russisch Anmutendes außer den üblichen Ladas, einer russischen Minderheit und der russischen Sprache als Hilfssprache, die sich aber mittlerweile ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Englisch liefert, auf dem dritten Platz und – zu meinem Erstaunen – nicht allzu abgeschlagen, liegt Deutsch.

Mann mit Schwert und kleinem Penis

Mann mit Schwert und kleinem Penis

Bei den Menschen fällt das Aussehen auf; die meist schwarzhaarigen Männer tragen einen oftmals recht tiefen Haaransatz im Gesicht und auch die Monobraue ist weit verbreitet. Manchmal teilen sich drei Männer eine einzige Augenbraue. Die Frauen sind entweder geschminkt wie Kleopatra oder gar nicht, einige von ihnen versuchen, ein europäisches Schönheitsideal nachzuahmen, wobei ich mich frage: warum? Das Leben spielt sich draußen ab, meistens nach Einbruch der Dunkelheit, was den Temperaturen geschuldet sein mag.

Jerewan bei Nacht

Jerewan bei Nacht

Wieder viele Kinder überall, Fahrradverleih auf dem Opernplatz, Café an Café, voller Besucher, wann arbeiten die eigentlich alle? Freundliche Polizisten, Berge im Nebel, alles sehr europäisiert, die Häuser aus festem Stein gebaut, keine Chance und Notwendigkeit für blätternden Putz. Eine Stadt, eingerahmt von Heldendenkmälern mit Schwertern, kargen Hügellandschaften, einer übermächtigen Gedenkstätte zum Genozid durch die Türken, Fernsehturm, Lichter überall.

typisches Wohnviertel im Zentrum

typisches Wohnviertel im Zentrum

Die Lichter sind nicht selbstverständlich, so gab es in Jerewan zwischen 1991 und 1996 täglich nur eine bis zwei Stunden Strom, was einem großen Erdbeben, dem Zerfall der UdSSR und der damit verbundenen Energieknappheit zuzuschreiben ist.PanoramaSeit kurzem gibt es ein staatliches Rentensystem, welches nur wenige wollen, eine Stimme bei der Präsidentenwahl kann für ca. 12 Euro verkauft werden, es gibt keine militärische Kultur in diesem Land und der Genozid schwebt über allem. Aber dazu bald mehr, denn da gibt es noch viel zu lernen für uns.

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Die alte Frau und das Meer http://www.hntrlnd.de/?p=721 http://www.hntrlnd.de/?p=721#comments Wed, 07 May 2014 07:09:30 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=721 Die Gartenpflanzen sind  Jahrzehnte, der Beton ist höchsten fünf Jahre alt.

Die Gartenpflanzen sind Jahrzehnte, der Beton ist höchsten fünf Jahre alt.

Unser Gastgeber André arbeitet im Management des “Bridge Resort”, einem frisch für die Olympiade gebauten Hotelkomplex direkt neben dem Gelände der Olympischen Spiele. In Sicht- und Rufweite zur abchasischen Grenze wurde für das riesige Areal, das wir alle aus den Livebildern des Februars kennen, eine ganze Sumpflandschaft trockengelegt, zuvor gab es nur an vereinzelt erhöhten Stellen kleinere Fischerdörfer. Heute erheben sich hier ganze Berge aus Bettenburgen, alles ist eingezäunt – durch große Teile der Hotelstadt und des olympischen Dorfs dürfen wir nicht spazieren, die Swimming Pools werden sauber gehalten für Gäste, die es nicht mehr oder noch nicht gibt.

Eingezäunte Swimmingpools und Bettenburgen

Eingezäunte Swimmingpools und Bettenburgen

Und so ist auch das Bridge Resort eingezäunt. Die Hotelhäuser weisen mit Namen wie „Sydney“ oder „New York“ auf ihre olympische Vergangenheit hin. Das Hotel ist schick und funktional, hat zu dieser Jahreszeit etwas wenig Gäste und etwas mehr als genügend Personal. Eine große russische Baufirma errichtete fast die Hälfte der Häuser um den Olympiapark, sie ist nun Eigentümer von Leerstand bis auf einige Inseln, zu denen auch das Bridge Resort gehört – hier und da werden gerade Konzepte einer Nutzung der Gelände  erarbeitet, unabhängig von künftigen Hochzeiten wie Formel 1 und Fußball-WM 2018.

Gartenzäune zwischen Meer und Ressort

Gartenzäune zwischen Meer und Ressort

Vom Hotel sind es etwa 100 Meter hin zu Betondamm, Steinstrand und Schwarzem Meer. Dazwischen ein kurzer Abschnitt, Blechzäune, zwei Meter hoch, mit der Kopie eines Holzfunierplastikimitats beklebt. Dahinter Höfe und Häuser des Dorfes, dass schon vor Olympia existierte. Irgendwo ein Durchgang zwischen Zäunen, ein schmaler Asphaltweg führt zwischen weiteren Zäunen durch das Dorf. Dort, wo die Straße parallel zur Promenade abbiegt, steht ein überdachtes Metallgestell an einem kleinen Zweiraumhaus. An der Wand ein Kühlschrank, ein Regal, halbvoll mit Tütensuppen, Keksen, Trockenfisch und den üblichen, weltweit bekannten Getränken. Eine junger Straßenhund tappst um einen Knochen herum, den er sich vorgenommen hat zu zerkauen. Er schiebt den Knochen und sich zwischen zwei Bänke und einen Tisch, die unter dem Blechdach aufgestellt sind. Eine ältere Frau räumt irgendwas auf. Ich frage sie, ob wir uns hinsetzen und einen Tee trinken können. „Ja natürlich, ich mache euch einen Tee,“ sagt sie lächelnd, „aber ihr braucht Petschenie zum Tee.“ Sie zeigt auf die drei verschiedenen Sorten von Keksen. „Njet, tolko Tschai.“ antworte ich und sehe dabei Dirk, der schnell mal Hunger hat. „Ili, kakoi Petschene u was jest?“

"Das ist nicht mein Laden."

“Das ist nicht mein Laden.”

„Hier, das wollt ihr bestimmt.“ sagt sie, öffnet den Kühlschrank, holt eine mit süßer Sahne und Marmelade gefüllte Biskuitrolle aus der Verpackung und schneidet sie für uns in Scheiben. „Wartet, ich mache euch den Tee. Mit Zitrone und Zucker?“, dann geht sie in den hinteren Raum.
Als sie mit dem Tee zurückkommt, frage ich sie, wie lange sie hier schon wohnt. „Naja, so vierzig Jahre da drüben,“ sagt sie und zeigt auf ein Haus, dessen rotes Wellblechdach über den beschriebenen Zaun hervorguckt, „in einer Kommunalnaja.“ „Und wie lange haben Sie den Laden?“ „Das ist nicht mein Laden“ grinst sie. „Wie ist es denn für Sie, wenn hier die neuen Häuser entstehen?“

Blechdächer und Asphalt

Blechdächer und Asphalt

„Naja, wie soll es sein. Die Straße hier“ – sie zeigt auf den Asphalt – „haben sie uns schön gemacht, vorher konnte man hier kaum noch langlaufen und wir haben ein neues Dach bekommen, es hat doch schon jahrelang bei uns durchgeregnet. Das ist eine arme Kommunalnaja, drei Familien teilen sich eine Küche und eine Toilette gibt es nur auf dem Hof.“ „Wurde das auch geändert?“ „Nein, aber das Dach ist jetzt neu.“ „Und die Zäune? Früher konnten Sie doch bestimmt im Hof sitzen und auf das Meer gucken?“ „Ja, aber das Meer ist doch immer noch da?“ fragt sie verwundert. „Und jetzt gibt es einen Damm, keine Überschwemmungen mehr.“ dann hält sie kurz inne „Aber hier wird bestimmt auch bald alles abgerissen.“ „Wissen Sie das schon?“ „Es wird geredet. Warum sollte hier nicht auch alles schön gemacht werden?“ „Und wohin gehe Sie dann?“ Sie zuckt mit den Schultern, lächelt dabei weiter. „Denken Sie, die russische Gesellschaft wird Sie weiter unterstützen?“ „Ich weiß es nicht“ sagt sie.

Gleich bekleckert er sich

Gleich bekleckert er sich

Dirk rutscht das Glas Tee aus der Hand, es kippt nicht, aber verschüttet den Tee teilweise auf seine Hose. Sie ist erschrockener als wir, holt ein Handtuch und sagt: „Das ist ja nicht so schlimm.“ „Nein, ist es nicht“ sagt Dirk, ihm passiere das häufiger. „Der Tee war doch nicht mehr so heiß? Das ist ja nicht so schlimm.“ Sie verhält sich, als hätte sie den Tee auf Dirk gekippt, beruhigt sich erst, als er an seiner Hose herumtupft. Natürlich frage ich sie, ob ich ein Foto von ihr und ihrem Laden machen kann. „Na gut, machen Sie mal.“ Sie setzt sich hinter den Trockenfisch. Ich zeige ihr das Foto im Display. „Aber das können Sie mir nicht geben?“ fragt sie. „Nein,“ sage ich „das kann ich hier nicht auf Papier machen.“ Dann halte ich kurz inne. „Aber ein Freund arbeitet nur hundert Meter entfernt in dem Hotel, ich werde ihn fragen, ob er es ausdrucken und ihnen vorbeibringen kann.“ „Nein, das ist doch zu viel Aufwand.“ „Ist es nicht, die Viertelstunde kann er sich bestimmt nehmen. Naja, vielleicht bringt er Ihnen ja das Bild vorbei, vielleicht aber auch nicht.“ Wir haben den Tee getrunken, die Biskuitrolle ist aufgegessen. Also verabschieden wir uns und schlendern weiter durchs Dorf. Links und rechts der Dorfstraße werden wir eingezäunt von mit Plastikfolie beklebtem Blech.

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Russlands Riviera http://www.hntrlnd.de/?p=709 http://www.hntrlnd.de/?p=709#comments Tue, 06 May 2014 05:24:58 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=709 Gesellschaftliches System zur Klassifizierung von Objekten der touristischen Industrie

Gesellschaftliches System zur Klassifizierung von Objekten der touristischen Industrie

Vor 27 Jahren legte mein Opa fest, daß er die Fotos entwickeln würde. Das sei nötig, denn der Filmtransport hätte nicht richtig funktioniert; wenn man die Filme in die Entwicklung geben würde, kämen garantiert keine brauchbaren Bilder heraus. Im Hotel “Tschemschuschina” wurden die Filme unter der Bettdecke aus der Kamera genommen und lichtsicher verpackt. Am Ende gab es kein einziges Foto, denn alle Filme waren doch vor der Entwicklung belichtet.
Heute fragt die digitale Fotografie nicht nach Filmentwicklung. Die Impression versucht sich sofort im digitalen Speicher zu bebildern.

Vorzeigearchitektur der Achtziger

Vorzeigearchitektur der Achtziger

Das Hotel „Tschemtschuschina“, also „Perle“, gibt es immer noch. Ich bin mir sicher, dass die vier Sterne neben dem Logo schon zu Intourist- Zeiten repräsentativ dazugehörten, aber sie sagen wohl nichts über Qualität aus. Denn wenn man erst mal piepend durch die scheinbar unbewachten Metalldetektoren ins Innere des Hotelkomplexes gelangt ist, erscheint der Raum immer noch in sozialistischer 80er-Jahre- Architektur. Ich versuche, mich zu erinnern, hatte immer vermutetet, die Größe des Hauses hätte mich derart beeindruckt, weil ich damals kleiner Jungpionier war.

"Perle" - Sternstunde des UdSSR-Tourismus

“Perle” – Sternstunde des UdSSR-Tourismus

Aber der Eindruck bleibt, das Haus ist riesig und hässlich, die Ein- und Ausgänge sind immer noch im russischen verkupferten Design, das ich aus den Achtzigern kenne, die typische Farbe jeder damaligen Metrostationstür.
Die Eingangshalle ist in ihren Dimensionen trotzdem stark geschrumpft. Eingemietete Läden bilden eine kleine Stadt innerhalb des riesigen Hotelkomplexes.
Sochi ist bereits Anfang Mai gut besucht, im Sommer werden sich Touristenmassen von den Hotels zum Strand schlängeln, jetzt sind die Promenaden und Parks noch begehbar genug zum Schlendern und Staunen. Die Sonne scheint bereits heiß und heftig.

Dazwischen manchmal der Blick aufs Meer

Dazwischen manchmal der Blick aufs Meer

Die Promenade hat ihre Weitläufigkeit eingebüßt. Das Kleingewerbe mit seinen Läden hat sie zu einer kilometerlangen Einkaufszeile gemacht. Getränke, Eis, Souvenirs (sehr viele Olympia-Reste), Fußputzerfischsessions, Schießbuden, Flipflops, Fastfood, Massage, bekannte Touristenfallen und neue Geschäftsideen drängen sich aneinander und stellen Überfluss dar. Die Preise sind europäisch minus zehn Prozent.
Mitsamt den Hotel- und Ressortneubauten ist Sochi verwinkelt und kleinteilig geworden. Dabei ragen die Bettenhäuser in den Himmel. Lenin wird an allen Seiten von werbebeschilderten Wolkenkratzern bewacht.

Das Lenindenkmal und seine Bewacher

Sochis Lenindenkmal und seine Bewacher aus Stahlbeton

Zwar werden auch die Parks vom Neubau bedrängt, ihre subtropische Schönheit haben sie dabei nicht verloren. Licht und Schatten laden im Grün der Platanen und Palmen zum Hinsetzen und Gucken, oder Dösen ein, der verspiegelglaste Horizont kann schnell ignoriert werden.
Kann ich durch Sochi schlendern und mich erinnern? Nein, das kann ich nicht. Das ein Vierteljahrhundert alte Bild gibt es nicht mehr. Wie in jeder russischen Boomtown wird das Alte vom Neuen eingebaut und überbaut, bis es verschwunden ist. Wenn ich mich nicht mehr erinnern will, finde ich eine auf Massentourismus spezialisierte Idylle vor, in der sogar ich mir Pauschalurlaub zwischen Spa und Steinstrand vorstellen könnte.

Parkidylle, Spiegelglas, Kunstbisnes

Parkidylle, Spiegelglas, Kunstbisnes

Mein Opa war Ökonom und kannte die realen Zahlen. Ich vermute, dass er nach Sochi den irrationalen Gedanken hatte, sein Sozialismus hätte doch eine Chance, zu schön war es hier. Kurz nach dem Sochi-Urlaub ist er gestorben. Völlig überarbeitet und zu viel geraucht hat er auch.
Nach dem brachialen Urkapitalismus der Neunziger fängt der neue russisch geplante Kapitalismus an zu funktionieren. Die Ruinoks sind sauberpoliert und voll mit Waren und Lebensmitteln aus allen Teilen des Riesenlandes, das Angebot ist beeindruckend. In Sochi und Adler gibt es keine offensichtliche Armut. Bestimmt staatlich forciert, denn hier soll Urlaub gemacht werden, ohne Sorge. Die ganze Welt kann in den überdimensionierten Bettenstädten um Sochi herum einquartiert werden. An den teilweise künstlichen Steinstränden wird in diesem Sommer über hunderte Kilometer hinweg sonnengebadet. Alles ist da, Mangel wird aus dem Wörterbuch gestrichen. Schöne neue Überflusswelt.

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Das verlassene Sanatorium http://www.hntrlnd.de/?p=673 http://www.hntrlnd.de/?p=673#comments Sun, 04 May 2014 14:10:42 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=673 Sanatorium

Heute haben wir zwischen all dem Glanz und Gloria in Sochi ein Sanatorium entdeckt, was – ich bin kein Architekt – wohl vor 1900 gebaut worden sein muss, von 1941 bis 1945 als Lazarett diente und den Eindruck erweckt, als hätte Nikolai Ostrowski hier “Als der Stahl gehärtet wurde” geschrieben.

Wer's lesen kann...

Wer’s lesen kann…

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Geheiratet wird ja immer irgendwo.

Geheiratet wird ja immer irgendwo.

Schön Gassi gehen.

Schön Gassi gehen.

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Kharkov – Sochi http://www.hntrlnd.de/?p=606 http://www.hntrlnd.de/?p=606#comments Fri, 02 May 2014 08:03:55 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=606 Zug und Nacht und Rostov

Zug und Nacht und Rostov

Von Kharkov nach Rostov am Don, platzkartnui Wagon. Die Tickets kosten für die ganze Strecke bis Sochi nicht um die fünfzehn, sondern siebzig Euro pro Person. Die Abteile sind eng, keine Türen zum Abschließen. Den Raum, auf dem im Coupe vier Fahrgäste liegen, teilen sich hier sechs Leute. Noch weniger Privatsphäre und diesmal keine schöne Ukrainerin in Sichtweite. Der Wagon auf der Zugstrecke Minsk – Sochi ist sauber, die Mitfahrenden sind verschlafen, die Liegen bereits runtergeklappt. Der Ein- und Ausstieg, in welchem man raucht, ist wieder mit Aschenbechern ausgestattet. Ein Schild weist darauf hin, dass auf der Durchfahrt durch die Ukraine nicht geraucht werden darf: Altbekannte Prozedur, die Durchgangstür zum nächsten Wagon öffnen und zwischen den Wagons auf die Schienen aschen.

Ukraine und Landschaft und Gleise

Ukraine und Landschaft und Gleise

Fünf Tage vor Abfahrt waren wir auf dem Kharkover Bahnhof, um die Tickets zu kaufen. Wir hatten nicht an Wuichodnuie gedacht, für welche die freien Tage um den ersten Mai herum gerne genutzt werden, außerdem hatten wir uns blenden lassen von Statistiken, welche besagten, dass der Ticketkauf Richtung Krim und Russland um dreißig Prozent zurückgegangen sei. Auf dem Weg zum Fahrkartenschalter wurde ich von jemanden in Zivil angehalten, er zeigte ein Dokument, welches ihn wahrscheinlich als Polizisten auswies, ein uniformierter Polizist stand neben ihm. Er fragte mich, was ich hier wolle, wo ich hin will und woher ich komme. Also zeigte ich meinen Pass und sagte was von Deutschland und Urlaub und Sochi, wie immer wurden aufmerksam und interessiert die Visa durchgeblättert, ich bekam den Pass ohne weitere Nachfrage zurück. Diese Begebenheit vermittelte mir einen weiteren Eindruck von der Nervosität der ukrainischen Behörden. Am Fahrkartenschalter wurde uns schnell mitgeteilt, dass es keine Tickets mehr gäbe, weder für den Zug Minsk – Sochi, noch für den Zug Moskau – Sochi. Wir waren erschüttert. “Na, da muss es doch eine Möglichkeit geben”, murmelte die Angestellte am Schalter für internationale Gäste in fließendem Englisch und tippte lange und konzentriert auf der Tastatur. “Das ist möglich” sagte sie dann, während sich bereits Schweißperlen auf unserer Stirn bildeten. “Ihr bekommt Platzkarten für den Zug Minsk – Sochi, fahrt bis Rostov, zwei Stunden später steigt ihr in den Zug Moskau – Sochi, wieder mit Platzkarten.” “Perfekt,” rief ich “machen wir so.” In meiner Euphorie fragte ich mal wieder, ob ich ein Foto von ihr machen dürfe. Sie freute sich: “Gerne, doch hier dürfen keine Fotos gemacht werden.” “Das sieht doch keiner.” sagte ich. “Doch die Kameras.” grinste sie, ihr Zeigefinger hob sich von der Tastatur ein wenig zur Seite hin.

Platzkartnui und Fenster und Rausgucken

Platzkartnui und Fenster und Rausgucken

Jetzt sitzen wir also im Minsk-Sochi Zug und bekommen Waren feilgeboten, laut werden Vorzüge und günstige Preise vorgetragen, Schlafende sind egal. Folgende Liste beschreibt, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, das Sortiment: Blumenvasen, mit Blumenmuster, oder ohne, vergoldet, oder nicht, Kinderbuntstiftsets, Walnüsse, Milch, andere Nüsse, einen Meter hohe Vasen (das Angebot entspricht wirklich dem eines gut aufgeräumten Vasenladens), Käse, karierte Taschen voll Zeug, Brot, Brennholz, Bier, Besteck und das beste Gebäck überhaupt, wenn man der Verkäuferin glauben mag.
Die ukrainische Landschaft fährt am Fenster vorbei, die Bäume blühen, mehr Birkenwäldchen, also fahren wir in die richtige Richtung. Nach vier Stunden Fahrt werde ich bereits das zweite Mal von Polizisten kontrolliert. Sie entdecken mich, als ich durch das Türfenster der Raucherecke Fotos von vorbeifahrender Natur mache. Wir fahren zwar durchs Donezk-Gebiet, aber von einem fahrenden Zug aus sind keine Besonderheiten zu entdecken. Eine Straßensperre aus alten Reifen bekomme ich nicht rechtzeitig in den Fokus.

Bahnsteig und Hightech-Zug und kurz vor Sochi

Bahnsteig und Hightech-Zug und kurz vor Sochi

“Gehörst Du zu dem Wagon?” fragt mich der eine Polizist “Ja”. “Hast Du Drogen dabei?” fragt der zweite. “Nein, keine Drogen.” “Wo kommst Du her?” “Aus Deutschland.” “Alleine unterwegs?” “Mit einem Freund.” “Kommt ihr aus Weißrussland?” “Nein, aus der Ukraine.” “Aha, was habt ihr hier gemacht?” “Urlaub?” “Zeige Deine Dokumente!”. Also gehen wir zu den Liegen. “Hast Du ein Telefon dabei?” “Ja, aber das Akku ist alle.” “Zeige es trotzdem!” Er schaltet es ein und klickt wild durch die Apps, findet Fotos, dann geht das Handy wieder aus, Dirks Handy wird auch durchgeklickt. Ich habe die ganze Zeit den Fotoapparat in der Hand, dessen Aufnahmen wohl relevanter wären, aber dieser interessiert die beiden Polizisten scheinbar nicht mehr, sie haben wohl nicht genug Indizien für irgendwas gefunden, stattdessen werden willkürlich noch ein paar andere Passagiere kontrolliert.
Die Grenzkontrollen verlaufen dann auf beiden Seiten schnell. Interessant ist vielleicht, dass die ukrainischen Zöllner bereits fünfzig Kilometer vor der Grenze den Zug kontrollieren. Die Russen blättern direkt an der Grenze durch unsere Visa.
Rostov am Don – schicker Bahnübergang, viele Sitze in großen Wartesälen, vereinzelt schlafen Wartende.
Der nächste Zug kommt auf die Minute pünktlich. Wieder ein platzkartnui Wagon, diesmal neuester russischer Hightech. Ein kleines Schildchen informiert darüber, dass wir in einem Glückswagon mitfahren, ein Passagier hat auf Platz soundso gesessen und 500000 Rubel gewonnen, weshalb es sich durchaus lohnt, an der Bahnlotterie teilzunehmen. Wir finden nach längerer Suche unsere Liegen. Alle schlafen. Am Morgen zeigt sich das Manko der eng besetzten Nachtzüge. Die morgendliche Routine ermöglicht es nicht, sich nicht ständig gegenseitig auf die Füße zu treten. Dicht an dicht drängen sich Passagiere durch den engen Gang aneinander vorbei.
Es gelingt mir immer noch nicht, dem Gespräch zwischen Russen sinngemäß zu folgen, zu schnell, zu viel neu, die Sprache hat sich verändert. Eine schöne Russin zieht kurz vor Sochi eine Jeansjacke an. Steht ihr nicht. Tolle dunkelbraune Augen.

Wagon und Deschurnaja und angekommen

Wagon und Deschurnaja und angekommen

Ich frage die Deschurnaja, ob sie uns bis Adler weiterfahren lässt, obwohl wir doch nur Tickets bis Sochi gekauft haben. Sie grinst kurz und macht dann wieder ein ernstes Gesicht “Das entscheide ich in Sochi, ich sage dann Bescheid” Auf weitere fragende Blicke meinerseits antwortet sie bis Sochi mit besonders ausdrucksstarker Ignoranz. Am Bahnhof schaue ich von der Wagontür aus kurz auf den Bahnsteig und zu ihr. Ihr Handwink vermittelt, dass die Fahrt eine Station weiter klar geht. Der Zug kommt auf die Minute pünktlich an. Gerne lässt sich unsere Deschurnaja vor ihrem Wagon fotografieren. Adler, Olympiapark, Palmen, Schwarzes Meer.

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