hntrlnd » Jerewan http://www.hntrlnd.de Lenin, Leute, Brot und Spiele Fri, 27 Jun 2014 19:11:05 +0000 de-DE hourly 1 http://wordpress.org/?v=3.8.1 Eine unverarbeitete Geschichte http://www.hntrlnd.de/?p=760 http://www.hntrlnd.de/?p=760#comments Mon, 12 May 2014 06:26:01 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=760 Blick hoch zum Konferenzgebäude des Genozide Museums

Blick hoch zum Konferenzgebäude des Genozid Museums

Wie soll man den Mord an zwei Millionen Menschen begreifen können? Wie soll man nachvollziehen, was solch eine Tragödie bei Verwandten, Bekannten, Überlebenden ausgelöst hat? Wie kann man diese Geschichte kurz und zusammenfassend erläutern, wenn sie eben nicht nur mit der Leugnung durch die Türken und dem Gedächtnis der Armenier zu tun hat, sondern auch mit den damaligen weltweiten politischen Verstrickungen, in deren Konsequenz das Töten von über zwei Millionen Armeniern, Assyrern und Griechen als Kollateralschaden hingenommen wurde? Da ich selbst zu einem Tätervolk gehöre, das auch auf Grundlage und mit den Erfahrungen und Berichten dieses Genozids seine noch brutalere und bedingungslosere Vernichtung von Leben veranstaltete, darf ich dann diesen thematischen Einstieg zum Vernichtungsplan der Jungtürken vor 99 Jahren schreiben?
Mir bleibt nichts übrig, als zu schreiben, ohne eine der Fragen beantworten zu können:

Eingangsbereich

Eingangsbereich

Ende des 19. Jahrhunderts war das Osmanische Reich politisch und wirtschaftlich völlig rückständig im Vergleich zum industrialisierten und sich langsam demokratisierenden Europa. Besonders dem aufkeimenden europäischen Nationalismus hatte das Riesenreich kaum etwas entgegenzusetzen. Bereits ab 1850 gab es Ansätze, den Staat neu zu konsolidieren. Im theokratischen System begann eine Säkularisierung, die besonders in wirtschaftlich- technischer Hinsicht Früchte trug. Hochverschuldet in Europa und auf dessen technische Unterstützung angewiesen, gab es aber kaum eine staatliche Souveränität. Der 1876 ins Amt gehobene Sultan Abd-ul Hamid forderte von Armee, Brigaden und Spionen das sofortige Eingreifen bei Aufständen. In vielen Provinzen gab es in der Folge erste blutige Progrome, bevorzugt an den Armeniern. Meist aber nicht infolge von wirklichen Aufständen, stattdessen wurden diese von lokalen Machthabern vorgegaukelt, um sich besser stellen zu können oder um sich zu bereichern. Es gibt zahlreiche Berichte über die Auslöschung ganzer Stadtteile, aber nur spärliche von Aufständen oder Unruhen. Das armenische kulturelle Erbe ist bis heute höflich, leise und gewaltlos. Bereits bis zur Jahrhundertwende starben durch die Gewaltanwendung türkischer Beamter 300.000 Armenier. Bereits 1902 veröffentlichten der Sozialdemokrat Eduard Bernstein und der Pfarrer Otto Umfried das Buch „Armenien, die Türkei und die Pflichten Europas“. Europa kannte also die bereits geschehene Gräuel, Abd-ul Hamid hält sich jedoch nur in der verkitschten europäischen Erinnerung als der grausame Herrscher im Orient, seine Unfähigkeit, das Reich zusammenzuhalten und zu reformieren, führen zu seiner Absetzung 1909.

"Mutter erhebt sich aus der Asche" - Statue zur Erinnerung an jene, die im Genozid 1915 umkamen, ihn überlebten und vor ihm flüchteten. (2001)

“Mutter erhebt sich aus der Asche” – Statue zur Erinnerung an jene, die im Genozid 1915 umkamen, ihn überlebten und vor ihm flüchteten. (2001)

Die Armenier schweben in dieser Zeit zwischen dem Protektorat des russischen Zarenreichs und den Ausschreitungen des osmanischen Staates, ohne feste Grenzen bei ihrem heiligen Berg Ararat, der allein in die Höhe ragt und auf dessen Gipfel Noahs Arche aufgelaufen sein soll. Ansonsten führen sie ein assimiliertes Leben in türkischen Städten, bestimmt schon auseinandergesetzt mit dem inzwischen aus Europa importierten Rassismus. Die bis dahin von Hamid unterdrückte jungtürkische Bewegung konsolidiert sich als neue Führung des osmanischen Reiches.
Eine erste Amtshandlung der Jungtürken besteht in der Ausrottung der streunenden und friedlichen Hunde in Istanbul. Der Vorschlag eines französchen Wissenschaftlers, sie in Gaskammern zu töten, wird nicht umgesetzt. Stattdessen werden sie eingefangen und auf einer kleinen Insel ausgesetzt, auf welcher sie jämmerlich verhungern.
Gleichzeitig werden in Adana, Kessab, Latakia, Bazit und Antiochia tausende Armenier getötet und in den Fluss geworfen. Seeleute eines französischen Kreuzers berichten: „An der Küste sieht man nun schon, daß sie auf dem Wasser treiben, weil die Strömungen sie herantragen, und auf den europäischen Kriegsschiffen kann man beobachten, wie sie langsam, verstümmelt und aufgebläht, am Bug vorbeiziehen …“
Während Leo Trotzki anfangs die jungtürkische Bewegung als revolutionäre Kraft einschätzte, hatte er wohl schnell feststellen müssen, dass mit dem Import des in Europa stark verbreiteten rassistischen Gedankenguts die Morde des abgewirtschafteten Osmanischen Reiches sich wiederholten.
Drei Männer aus der jungtürkischen Bewegung hatten 1914 die absolute Macht im Osmanischen Reich. Der Innenminister Talaat Pascha, der Kriegsminister Enver Pascha und der Marineminister Dschemal Pascha. Sie nannten sich „Komitee für Einheit und Fortschritt“. Der Panturanismus setzte sich unter ihnen schnell als Ideologie durch. Der Rassismus, auf Blut und Boden für die Türken begründet, erstickte viele liberale und revolutionäre Hoffnungen. Gleichzeitig ist es die Geburt der Türkei. Der erste Weltkrieg beginnt und das Deutsche Kaiserreich pflegt beste Beziehungen und Bündnisse mit dem neuen Land. Während ganz Europa mit seinem Stellungskrieg beschäftigt ist, wird der Genozid vorbereit, den die Türkei bis heute verleugnet. Im ersten Schritt werden armenische Kulturschaffende, Geschäftsleute, Ärzte, Journalisten und Beamte verhaftet und umgebracht.

Die ewige Flamme

Die ewige Flamme

Der amerikanische Botschafter Henry Morgenthau konsultierte Innenminister Talaat Pascha und sprach ihn auf die Armenier an. „Warum interessieren Sie sich für die Armenier?” fragte dieser. „Sie sind doch Jude, und diese Leute sind Christen.” Die rassistische, menschenverachtende Argumentation gehörte bereits unverblümt zur Staatsräson.
Es wurde die Spezialorganisation „Teskilat-i-Mahsusa“ gegründet, welche sich großteils aus Häftlingen rekrutierte, die sich mit der Entlassung verpflichteten, jedem Befehl zu folgen, dafür aber straffrei ihre befohlenen Taten begehen konnten.
Der Genozid beginnt und es werden Informationen verlangt: „Wurden die gefährlichen Elemente massakriert oder lediglich aus den Städten vertrieben und deportiert? Teile es mir klar und deutlich mit, mein Bruder!” erkundigte sich Doktor Behaeddin Schakir Bey, Absolvent der Kaiserlichen Medizinischen Fakultät und nun Sonderbeauftragter in Sachen Armenien. Ab dem 24. April 1915 gibt es kein Halten mehr. Die Berichte von ausländischen Beobachtern zeigen, wie ungläubig und abgestoßen sie den Morden zusehen. Nach der Ermordung der armenischen Elite werden die armenischen Männer, meist Zwangsarbeiter in der Armee, ermordet. Es gibt Übergriffe in allen Ecken des Landes, Leichenberge. Übrige armenische Männer, Frauen und Kinder werden auf Gewaltmärsche durch das Land geschickt, von Klippen gestürzt, in Höhlen getrieben und ausgeräuchert, auf Schiffe getrieben und versenkt. Innerhalb kürzester Zeit sind weitere 1,5 Millionen Armenier tot. Der neutürkische Rassismus hat eine gesamte Kultur und seine Menschen so gut wie ausgerottet. Die Welt hielt sich aus dem Genozid raus, zu stark waren die Bestrebungen, selbst Anteil am Aufbau und am Profit der Türkei zu haben. Russlands Protektorat gab es nur noch auf dem Papier. Für die Verteidigung der bolschewistischen Revolution wurde das Militär aus dem unter seinem Schutz stehende Armenien abgezogen.

Blick von den Cascaden auf Yerevan

Blick von den Cascaden auf Yerevan

Im nächsten Jahr begeht Armenien den 100. Jahrestag der Gräueltaten. Das Land musste hart bezahlen für die Machtspiele einer Welt, an denen es selbst nie teilnahm. Es wäre angemessen, wenn auch kaum vorstellbar, dass die türkische Regierung als Zeichen der Erkenntnis und Reue diesen Jahrestag mitbegeht. Deutschlands Geschichte fußt auf einer unvorstellbaren Menge Blut, dass die Welt hat fließen lassen müssen. Die Gräueltaten Nazideutschlands haben andere und unvergleichbare Dimensionen. Wir dürfen es nicht zulassen, dass wir uns dieser Schuld nicht bewusst bleiben. In seiner Obersalzbergrede vor der Wehrmacht nutzte Adolf Hitler explizit den Genozid als Argument für das strategische Töten, welches unter seinem Befehl in den folgenden Jahren Europa heimgesucht hat: „So habe ich, einstweilen nur im Osten, meine Totenkopfverbände bereitgestellt mit dem Befehl, unbarmherzig und mitleidslos Mann, Weib und Kind polnischer Abstammung und Sprache in den Tod zu schicken. Nur so gewinnen wir den Lebensraum, den wir brauchen. Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“
Ich wünsche Armenien einen weiteren, unblutigen und erfolgreichen Gang in der Welt und freue mich, wenn es sich seine freimütige und freundliche Gesellschaft erhält, die ich fünf Tage lang erleben durfte.

Vielen Dank an Adam J. Sacks, den wir im Hostel in Yerevan trafen. Er hielt im Genozid Museum in Yerevan Vorträge und diktierte mir an einem Abend derart viele Quellen, Namen und Zusammenhänge, dass sie für ein kleines Buch reichen würden. Bestimmt wird mein kleiner Artikel nicht seinem Wunsch nach einer wirklich ausführlichen Information über die Gräuel gerecht.

Links:
www.genocide-museum.am/eng/
www.genocide-museum.am/eng/conference-2014.php
de.wikipedia.org/wiki/Völkermord_an_den_Armeniern

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Zori braucht Schlaf http://www.hntrlnd.de/?p=753 http://www.hntrlnd.de/?p=753#comments Sat, 10 May 2014 06:00:06 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=753 Zori ist oft etwas müde

Zori ist oft etwas müde

Das ist Zori. Gestern, am Abend des 9. Mai, dem Feiertag des Sieges über Nazi-Deutschland und dem Feiertag der Befreiung der Exklave Nagorny-Karabach, genauer gesagt der Stadt Schuscha, die bis 1992 von Aserbaidschan besetzt war, hat er uns Wein gebracht und Kuchen und hat dazu mit seiner glockenhellen Stimme zwei unglaublich traurige, armenische Volkslieder angestimmt. Er ist 23 Jahre alt und übernimmt sechs Tage in der Woche die Nachtschicht in dem Hostel in Jerewan, in dem wir für ein paar Tage wohnen. Er kommt abends um acht und geht zwölf Stunden später. Zwischendurch versucht er, ein wenig Schlaf auf der Couch im Gemeinschaftsraum zu bekommen, denn am Tag arbeitet er von neun bis sieben in einer Tischlerei, die sich auf Fahrzeug- Innenausbauten spezialisiert hat. Die einzige Freizeit, die er hat, ist der Sonntag, aber da schläft er eigentlich nur. Einmal im Monat schafft er es, in die Kirche zu gehen und zu beten. Zori spricht sehr gut deutsch, denn das hat er in der Schule gehabt und danach an einer Universität studiert. Dazu spricht er armenisch, russisch und ein wenig englisch. Sein älterer Bruder lebt in Deutschland, aber als ich ihn frage, ob er nicht lieber bei seinem Bruder leben möchte, verneint er mit einem Seufzen, denn einer muss sich doch um die Eltern kümmern, die ein paar Kilometer außerhalb Jerewans leben, schon sehr alt sind und Hilfe benötigen. Deswegen muss Zori auch soviel arbeiten. Seine Freundin, die in einer anderen Stadt wohnt, hat Zori deshalb schon seit fünf Monaten nicht mehr gesehen, Telefonate müssen reichen. Wieder ein kleiner Seufzer. Wie lange das so weitergeht? Zori weiß es nicht, aber er will unbedingt Polizist werden, dann hätte er gute Arbeitszeiten, einen vernünftigen Lohn, könnte seine Freundin heiraten, ein normales Leben führen und endlich mal wieder lange schlafen.

Zori wurde für kurze Zeit unser Freund

Zori wurde für kurze Zeit unser Freund

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Sodom und Gomorra http://www.hntrlnd.de/?p=750 http://www.hntrlnd.de/?p=750#comments Fri, 09 May 2014 06:44:21 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=750 Norair Gregorian

Norair Gregorian

Das ist Norair Grigorian. Beim Besuch der Gedenkstätte für den Genozid der Türken an den Armeniern, die aber leider geschlossen hatte, lief uns ein alter Herr über den Weg, genauer gesagt lief er uns nach. Durch sein auf den ersten Blick gepflegtes Äußeres machte er den Eindruck eines Offiziellen, sein Hemd gebügelt, die Hose sauber umgeschlagen, glänzende Lederschuhe. Als er mich ansprach, musste ich Jens hinzuziehen, denn mein Russisch und sein Englisch waren einfach zu schlecht, um einen wirkliche Konversation zu entwickeln.

Neben ein paar interessanten Informationen über die Gedenkstätte teilte uns Norair mit, dass er 12 Jahre politischer Gefangener in Sibirien war, weil er CIA- Agent gewesen sei. Dies kam, weil er an der Seite der Amerikaner gegen die UdSSR und ihr autoritäres Regime kämpfte. Bis zum Ende des Stalinismus war der Genozid an den Armeniern ein Tabu, ein Grund also, gegen das System zu sein. Im armenisch-aserbaidschanischen Krieg, welcher in den Achtziger Jahre die Menschen aus Berg Karabach tötete und flüchten ließ, waren die Amerikaner auf der Seite Aserbaidschans, Norair als gebürtiger Armenier aber nicht, was zu einem Zerwürfnis mit der CIA führte und ihm zusätzlich zwei Jahre Gefangenschaft in den USA einbrachte. Welcher Arbeit er nachgeht und ob er überhaupt eine hat, war nicht aus ihm herauszubekommen, lediglich, dass irgendwann nach seiner Gefangenschaft Gott zu ihm sprach und ihm mitteilte, er müsse ein Buch schreiben, für welches er aber bis heute keinen Verleger finden konnte. Erst wollte er uns nicht so recht davon erzählen, weil er Angst hatte, wir würden ihn für verrückt halten, tat es dann aber doch. Sein Buch handelt, soweit wir das verstehen konnten, vom Untergang der sieben großen, sündigen Städte Kopenhagen, Istanbul, Hannover, New York, Moskau, Kapstadt und Amsterdam, wie es in der Bibel mit Sodom und Gomorra geschah. Wann genau das geschehen soll, sagte er uns nicht.
Er fragte nach unserem Glauben und wir teilten ihm mit, dass wir keinen haben. Er zeigte Verständnis und sagte, dass er bis zu seinem Gespräch mit Gott ebenfalls keinen hatte. Nun aber liest er nur noch in der Bibel, denn dort würde er die Antworten auf alle, auf wirklich alle Fragen finden. Wir verabschiedeten uns freundlich, bevor das Gespräch endgültig seine Konsistenz verlieren würde. Trotzdem Danke, Norair, für Deine Aufgeschlossenheit und Selbstironie.

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Sotchi – Jerewan http://www.hntrlnd.de/?p=737 http://www.hntrlnd.de/?p=737#comments Fri, 09 May 2014 06:02:17 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=737 Im armenischen Baumarkt habe ich nach langem Suchen endlich die Abteilung mit den Stichsägeblättern gefunden. Diese brauchte ich, um ein fehlerhaftes und dauerhaft knarrendes Brett in den Fußbodendielen unseres Schlafzimmers zu beschneiden, denn der Besitzer des Hostels hat nur eine Stichsäge, keine Sägeblätter. Ich stelle fest, dass ich kein Geld bei mir habe und nehme mir vor, die Sägeblätter zu stehlen, das kann ich gut, denn ich stehle ja oft. Auf dem Weg zur Kasse finde ich in einem der unteren Regale noch schöne, glänzende Glasmurmeln, ich stecke mir noch vier davon ein, eine ist leider zu groß für meine Hosentasche und so fällt sie mir auf dem Weg an der Kasse vorbei auf den Steinfußboden und zerbricht. Der Polizist am Eingang bemerkt natürlich mein schuldbewusstes Gesicht und nimmt mich mit auf die Wache. In diesem Moment klappert die Tür des Nachbarzimmers in unserem Hostel und ich wache auf. Wieder mal totalen Mist geträumt.

Flughafen Sotchi - wie alles hier ein wenig zu leer

Flughafen Sotchi – wie alles hier ein wenig zu leer

Um nach Armenien zu kommen, genauer gesagt nach Jerewan, müssen wir erst mal aus Russland, genauer gesagt aus Sotchi, raus. Unser Pässe werden viereinhalb mal kontrolliert, ein halbes mal freundlich, der Rest besteht aus kritischen Blicken und Fragen, was wir in Armenien wollen und warum wir in der Ukraine waren. Besonders Jens wird auseinandergenommen, weil er versucht, möglichst korrekt auf die Fragen in russischer Sprache zu antworten, ich stelle mich doof, frage einfach immer „In english please?“ und werde in Ruhe gelassen. Danke, Max Demian. Auf der Toilette, auf der ich nochmal schnell pinkeln gehe, riecht es, als habe ein ganzes Bataillon der russischen Armee seine letzte Rauchpause vor der Invasion der Ukraine gemacht. Ein alter, russischer Mann erbricht sich ins Waschbecken neben mir. Als ich ihn frage, ob er vielleicht Hilfe braucht, schaut er mich an, als ob ich ihn bestehlen will und erbricht sich wie selbstverständlich ein weiteres mal. Händewaschen fällt also diesmal aus. Das Flugzeug, ein Airbus A 319, ist nur zu einem Drittel gefüllt, die hübschen Stewardessen bedienen die drei Herrschaften in der Business- Class und die Oma, die kurz vorm Flug einen Kreislaufkollaps bekam und deren Mitflug nur Dank des Heulens ihrer Tochter doch noch zugelassen wurde. Wir hingegen bekommen unsere Getränke von Igor und Anton, das denke ich mir nicht aus! Das Brötchen, das sie uns als Snack zum Tomatensaft reichen, hat drei Scheiben Fleisch und ein Stück Gurke als Inhalt, Vegetarier bleiben eben hungrig. Zum Glück hat uns Igor zuvor noch die Sitze am Notausgang zugewiesen, da muss wohl immer jemand sitzen, wir haben doppelte Beinfreiheit, die drei Girls hinter uns instagrammen fleißig und kichern, wenn wir uns umdrehen, bei der Landung klatschen die Passagiere, der deutsche Pauschaltourismus hat sich also durchgesetzt. Nur noch nicht bei mir.

Blick übers Zentrum von Jerewan

Blick übers Zentrum von Jerewan

Jerewan erwartet uns heiß und freundlich. Eine winzige Kontrolle, schon stehen wir am Taxistand. Die letzte christliche Bastion vor der muslimisch geprägten Pufferzone zwischen Europa und Asien, gemeinhin als Kaukasus bekannt, will uns gleich mit dem dreifachen Fahrpreis abzocken, was auch klappt – zum letzten Mal, denn danach fahren wir nur noch mit Kleinbussen für ca. 20 Cent pro Fahrt. Sobald unsere Mitfahrer unsere Unkenntnis der armenischen Sprache bemerken, wird uns anstandslos geholfen, die richtige Station zu erwischen. Interessant ist auch, dass man nicht beim Einstieg bezahlt, sondern erst beim Ausstieg, was ein gehöriges Grundvertrauen voraussetzt, welches von allen, wirklich allen Fahrgästen wie selbstverständlich erfüllt wird; mir erscheint das als gesellschaftliche Verabredung.

In der Metro. Eine Linie, immer hin und her. Alles glänzt.

In der Metro. Eine Linie, immer hin und her. Alles glänzt.

Neben den tausend Bussen in zig Formen, Farben und Altern besitzt Jerewan eine einzige U-Bahn-Linie, ein Überbleibsel aus der Zeit, in der dies hier noch die Armenische SSR war, und so wie es aussieht, das letzte, denn ansonsten finde ich nichts russisch Anmutendes außer den üblichen Ladas, einer russischen Minderheit und der russischen Sprache als Hilfssprache, die sich aber mittlerweile ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Englisch liefert, auf dem dritten Platz und – zu meinem Erstaunen – nicht allzu abgeschlagen, liegt Deutsch.

Mann mit Schwert und kleinem Penis

Mann mit Schwert und kleinem Penis

Bei den Menschen fällt das Aussehen auf; die meist schwarzhaarigen Männer tragen einen oftmals recht tiefen Haaransatz im Gesicht und auch die Monobraue ist weit verbreitet. Manchmal teilen sich drei Männer eine einzige Augenbraue. Die Frauen sind entweder geschminkt wie Kleopatra oder gar nicht, einige von ihnen versuchen, ein europäisches Schönheitsideal nachzuahmen, wobei ich mich frage: warum? Das Leben spielt sich draußen ab, meistens nach Einbruch der Dunkelheit, was den Temperaturen geschuldet sein mag.

Jerewan bei Nacht

Jerewan bei Nacht

Wieder viele Kinder überall, Fahrradverleih auf dem Opernplatz, Café an Café, voller Besucher, wann arbeiten die eigentlich alle? Freundliche Polizisten, Berge im Nebel, alles sehr europäisiert, die Häuser aus festem Stein gebaut, keine Chance und Notwendigkeit für blätternden Putz. Eine Stadt, eingerahmt von Heldendenkmälern mit Schwertern, kargen Hügellandschaften, einer übermächtigen Gedenkstätte zum Genozid durch die Türken, Fernsehturm, Lichter überall.

typisches Wohnviertel im Zentrum

typisches Wohnviertel im Zentrum

Die Lichter sind nicht selbstverständlich, so gab es in Jerewan zwischen 1991 und 1996 täglich nur eine bis zwei Stunden Strom, was einem großen Erdbeben, dem Zerfall der UdSSR und der damit verbundenen Energieknappheit zuzuschreiben ist.PanoramaSeit kurzem gibt es ein staatliches Rentensystem, welches nur wenige wollen, eine Stimme bei der Präsidentenwahl kann für ca. 12 Euro verkauft werden, es gibt keine militärische Kultur in diesem Land und der Genozid schwebt über allem. Aber dazu bald mehr, denn da gibt es noch viel zu lernen für uns.

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