hntrlnd » Die Suche nach Lenin http://www.hntrlnd.de Lenin, Leute, Brot und Spiele Fri, 27 Jun 2014 19:11:05 +0000 de-DE hourly 1 http://wordpress.org/?v=3.8.1 Wolgograd http://www.hntrlnd.de/?p=1050 http://www.hntrlnd.de/?p=1050#comments Wed, 25 Jun 2014 04:06:26 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=1050 Flaniermeile, eindeutig in Russland

Flaniermeile, eindeutig in Russland

Der Zug fährt eine dreiviertel Stunde durch die Stadt, bis er am Bahnhof ankommt. Wolgograd zieht sich an der Wolga in die Länge. Unser Hostel ist einen Kilometer vom Bahnhof entfernt und liegt im absoluten Zentrum, in der fünften Etage eines Hochhauses an der „Straße der Helden“. Von hier aus ist der Prunk der sozialistischen Architektur und auch die Erinnerung an den großen Vaterländischen nur einige Schritte entfernt.

Das Stalingradmuseum

Das Stalingradmuseum

Die Frauen sind selten aufgetakelt, sie spazieren über die Straßen leger gekleidet, selten hochhackig. Es herrscht eine freundschaftliche Stimmung, Bekannte umarmen sich innig und lange. Überhaupt scheint es den Bürgern, genauso wie der Stadt gut zu gehen. Selbst Verkäuferinnen sind freundlich und leisten sich höfliche Floskeln. Ein Eindruck, den man in Russland sonst selten bekommt. Vielleicht ist das gute Wetter schuld, oder die überstandene Mückenplage. Tagelang wollte kein Wolgograder auf die Straße gehen, denn er stand sofort in einer schwarzen Wolke von Mücken, die sich in diesem Jahr besonders gut am Fluss entwickeln konnten. Jetzt sind Abends immer noch Mücken da, aber es lässt sich wieder schlendern.

Promenaden zwischen Mücken und Wolgablick

Promenaden zwischen Mücken und Wolgablick

Ausserdem bekommen wir ja wieder nur einen kurzen Eindruck. In drei Tagen kann man keine Stadt so kennenlernen, wie sie sich im Alltag darstellt. Ganz im Gegenteil, wenn wir uns endlich soweit zurechtfinden, dass wir uns auch ohne Stadtplan um einige Ecken trauen, dann reisen wir auch schon wieder ab.
Der Eingang zum Museum Panzer und Klettergerüst heroisch ... ... und stark bewaffnet

Lenin haben wir in Wolgograd gefunden. Erst einmal war er nur im Souvenirshop des Stalingradmuseums zu finden, hier geht es in chronologischer Raumaufteilung eher um die Zeit der Belagerung durch die Nazis, da war Lenin schon tot. Allerdings kann man aus dem Stadtzentrum raus fahren, zum Beispiel eine Dreiviertel Stunde mit der Elektritschka, in Richtung des Wolga-Don-Kanals.

Lenin monumental

Lenin monumental

Dort wurde zum Anlass der Fertigstellung des Kanals das größte Stalindenkmal der Welt errichtet. Es stand dort 12 Jahre. 2 Tage nach der Umbenennung von Stalingrad in Wolgograd wurde es abgerissen. Mitte der Siebziger Jahre wurde auf den immer noch vorhandenen Sockel eine ähnlich große Leninstatue gestellt. Die Wolgograder sagen: „Eigentlich wurde nur Stalins Kopf ab- und Lenins Kopf raufgeschraubt.“

Lenin geht

Lenin geht

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Stalin – und dann? http://www.hntrlnd.de/?p=857 http://www.hntrlnd.de/?p=857#comments Wed, 21 May 2014 07:19:38 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=857 DSC02728

Um 18:08 an diesem trüben Mai-Dienstag erleichtert sich mein Darm nach kurzer, aber schmerzhafter Ankündigung in die Toilette im Keller der Sportsbar von Gori in der Stalin-Allee Nr. 11. Die Bar hat Wi-Fi, aber keine Toilettenbürste. Mir ist es recht. Nach mir die Sintflut, muss sich Stalin auch gedacht haben. Gori, die Geburtsstadt von Stalin mitten in Georgien ist eigentlich keine Reise wert, wenn man von Stalin nichts wissen will. Eine Stadt mit ca. 60.000 Einwohnern, viele Häuser rufen: „Reiß mich ab!“, viele Einwohner rufen: „Hol mich raus!“, postsowjetische Tristesse, die sich um den Geburstort eines Massenmörders schart, aber das ist nur mein Eindruck, vielleicht gewinnt ein anderer einen anderen. Die Landschaft ist atemberaubend, Kinder winken uns freundlich zu, das Fußballstadion ist neu und kontrastiert den ruinösen Rummel der Stadt.Nach der Besichtigung des Museums hatten wir noch acht Stunden Zeit, bis unser Nachtzug ins vermeintlich gelobte Batumi am heruntergekommenen Bahnhof der Stadt um 00:01 einfahren sollte. Was tun? Wir kannten niemanden hier. Also schauten wir uns die Festungsruine in der Mitte der Stadt an, oben angekommen fanden wir zwei Polizisten in einem Häuschen aus Weißblech, die sich gerade eine paar Gurken zum Abendessen schälten. DSC02734Toller Ausblick, das war es dann auch. Kurz nach neun betreten wir das „Read-Cafe“ in der Stalin-Allee Nr. 10. Ein angenehmer Platz mit hübscher Einrichtung, man spricht russisch und lächelt uns an. Nachdem wir etwas bestellen und unsere Geräte aufladen konnten, kommt die Inhaberin auf uns zu, fragt nach unserer Nationalität, staunt (Ausländer und speziell Deutsche sind hier nach Schließung der Türen des Museums noch nie gesehen worden) und bittet uns mit einiger Heimlichtuerei ins Obergeschoss. Ich bin skeptisch, laufe aber hinter ihr und Jens die Treppe hoch.DSC02775Oben erwarten mich ein Konferenztisch mit Fahnen verschiedenster Länder, ein kleines, aber professionelles Radiostudio und Computerarbeitsplätze für die Erstellung von Zeitschriften. Sind wir hier beim Widerstand gelandet? Nein, bei Anna, die seit Jahren für eine andere Sicht auf den Konflikt zwischen Georgien, Ossetien und Russland wirbt und für diesen Zweck schon viele Menschen auf der ganzen Welt, bisher jedoch nicht aus Deutschland, werben konnte, leider trotzdem nicht genug, denn das Bild des Georgien-Krieges von 2008 ist, wie ich feststelle, ein sehr einseitiges. Anna selbst scheint eine sehr intelligente, ruhige und zielstrebige Frau zu sein. Das Cafe scheint mir Einnahmequelle, das Radiostudio und die Zeitschriften ihre Profession zu sein. DSC02773Sie will Menschen versöhnen, Mediation ist ein häufig gebrauchtes Wort, Schuldzuweisungen sind von ihr nicht zu hören. Zu ihrer Person bekommen wir nicht viele Informationen, sie ist gebürtige Bulgarin, ihr Mann ist Georgier. Zu Beginn des Krieges sind sie aus einem Dorf in Ossetien in dieses Haus in Gori gezogen. Heute können sie nicht mehr ins Dorf zurück. Dann lächelt sie, das sei genug von ihr, sie will lieber über das Leid, dass anderen Menschen im Georgien-Krieg zustieß, berichten. Aus diesem Grund überreicht sie uns ein Buch, in dem sie die Erlebnisse vieler Menschen mit diesem Konflikt gesammelt hat, über Grenzen und Nationalitäten hinweg. Schade, dass unser Zug gleich fährt, ich komme aus dem Staunen gar nicht mehr heraus und würde am liebsten noch ein paar Tage hierbleiben, aber leider gibt es in dieser Stadt kein Hotel, was um diese Uhrzeit noch geöffnet hat.DSC02776 Also bleibt mir nur eins: Das Buch lesen. Schon nach der ersten Geschichte muss ich absetzen und den Kloß im Hals runterschlucken. Ich hätte diese Sichtweise nicht erwartet, nicht hier, nicht jetzt, und nehme mir vor, nicht nur dieses Buch bis zum Ende zu lesen, sondern es auch ins Deutsche zu übersetzen. Ich denke, das ist nötig. Daher folgt nun, unkommentiert, die Übersetzung der ersten von vielen Geschichten aus dem Buch, dass sich nennt: The Other Picture Of War.

Wer mehr zum Konflikt wissen will, für den lohnt ein erster Einstieg hier:

http://de.wikipedia.org/wiki/Kaukasuskrieg_2008

http://de.wikipedia.org/wiki/Südossetien


Der Retter

Er ist mein Freund und ich werde immer für ihn beten

Im August 2008, als der Krieg in Zchinwali wütete, war das Untersuchungsgefängnis der Stadt gefüllt bis auf die letzte Zelle; mehr und mehr friedliche georgische Einwohner wurden dorthin gebracht und gefangengenommen. Man konnte sogar alte Ehepaare unter den Gefangenen erblicken. Während die Frauen noch einen gewissen Eindruck von Stärke vermittelten, konnten viele Männer, besonders die mit Herzerkrankungen, die unerträgliche Hitze, die Gewalt und die Demütigungen kaum ertragen. Luiza Nasuashvili und ihr Ehemann waren ebenfalls in einer der Zellen gefangen.
Das Ende der Kampfhandlungen liegt nun schon eine Weile zurück und sie erinnert sich an ihre Heimatstadt Zchinwali mit Tränen in ihren Augen. Luiza lebte in Zchinwali bis 1991, das Jahr, als erstmals Kampfhandlungen zwischen Georgien und Ossetien stattfanden. Durch diese Situation sah sie sich gezwungen, nach Tamarasheni zu ziehen, aber sie verließ ihre Heimatstadt nicht völlig; sie arbeitete weiterhin als Buchhalterin in einer Fabrik. Anfangs fürchtete sie, man würde sie als Georgierin aufgrund des Konflikts entlassen, aber ihre Ängste wurden nicht bestätigt. Niemand belangte sie in Zchinwali aus diesem Grund.

„Im August 2008 konnte ich mein Haus nicht verlassen. Die Situation war sehr gefährlich für mich, aber wohin sollte ich denn gehen? Ich hatte meinen kranken, schwachen Mann bei mir. Mir blieb nur die Hoffnung, dass sie die friedliche Bevölkerung nicht überfallen und ausplündern würden. Unglücklicherweise war diese Hoffnung trügerisch und die Situation endete tragisch.
Ossetische Soldaten erreichten unser Haus am 10. August; an einem Stützpunkt nahmen sie meinem Mann und mich mit ins Untersuchungsgefängnis nach Zchinwali. Mein Mann wurde immer schwächer in meinen Armen; durch den Stress und die Anspannung stieg sein Blutdruck rasant an. Es ging ihm schlechter, Stunde für Stunde, wir benötigten unbedingt Medizin für ihn. All meine Versuche waren erfolglos; die Situation dort war so ausweglos, dass ich nicht einmal jemanden um Hilfe bitten konnte. Andere Gefangene waren in noch schlechterer Verfassung. Immer wieder holten sie Menschen aus den Zellen und schlugen sie mehrfach zusammen. Bisher hatten sie uns noch nicht angefasst und hatte ich große Angst, um Medizin zu bitten, da ich keine Aufmerksamkeit erregen wollte. Doch als sich die Verfassung meines Mannes weiter verschlechterte und ich um sein Leben fürchten musste, entschied ich, dass es keine Wahl mehr sei, sich zu verstecken. Ich fasste den Entschluss und fragte einen der ossetischen Bewacher nach etwas Medizin. Er schaute mich böse an und schrie: „Vielleicht soll ich ja noch einen Krankenwagen rufen?!“ Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, ich wusste nur, dass mein Mann sterben würde.
Eine Weile später kam derselbe Bewacher auf mich zu und sagte mir in harschem Ton, ich solle mit ihm kommen. Ich folgte ihm aus Angst und brachte kein Wort heraus – doch er gab mir ein Päckchen blutdrucksenkende Mittel. Ich werde mich bis zu meinem Tod an das Gesicht des Mannes erinnern, als er mir die Medikamente gab; er schaute mir nicht in die Augen, hinter einem Checkpoint schrie er mir noch nach, ich solle mich wieder zurück an meinen Platz bewegen. Ich eilte zurück und umarmte meinen Mann. Ich weinte, ich weinte vor Freude und Erleichterung. Mein Mann war gerettet und ich wurde Zeuge von Menschlichkeit im Krieg. Ich war froh, dass der Krieg nicht die Menschlichkeit des Bewachers ausgelöscht hatte – er war nur böse zu mir, um vor seinen Kameraden keinen Verdacht zu erregen. Das Leben meines Ehemanns hing in diesem Moment von seinem Verhalten ab.
Dieser Mann ist mein Freund für alle Zeiten und ich werde weiter für ihn beten. Kannst du dir vorstellen, wie viel mehr Elend auf dieser Welt wäre ohne solche Menschen? Seit diesem Tag denke ich, dass Krieg ein Schmerz für alle Menschen ist.“

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Stalins Staub http://www.hntrlnd.de/?p=804 http://www.hntrlnd.de/?p=804#comments Fri, 16 May 2014 13:31:45 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=804 Die Hütte der Geburt wetterfest übermauert

Die Hütte der Geburt wetterfest übermauert

Gori liegt ca. 100 Kilometer westlich von Tbilisi und hat seine Bekanntheit dadurch erreicht, dass hier Iosseb Bessarionis dse Dschughaschwili am 16. Dezember 1878 geboren wurde. Abgesehen davon entschieden sich 2008 im Kaukasuskrieg hier die Russen zum Rückzug. Das Stalinmuseum gibt es immer noch, also müssen wir es besuchen. Die Eingangshalle ist voll, unerwartet dicht drängen sich Touristen, beschauen Ecken und Teppiche und fotografieren erste Stalin-Büsten. Auffallend alt ist die Gruppe, gut gekleidet im weltweit als Uniform anerkannten Touristen-Alltagsdress.

Schon in der Eingangshalle erste Gruppenfotos

Schon in der Eingangshalle erste Gruppenfotos

Wir kaufen Karten und werden informiert, dass wir uns dem englischsprachigen Rundgang der Gruppe anschließen dürfen. Eine korpulente Frau in den Fünfzigern in Stützstrumpfhosen, Fleecejacke und blauem Rock beginnt, mit einem Zeigestock die Wände und Devotionalien jedes Raumes abzugehen, verfolgt und belauscht von unserer Gruppe, deren Altersdurchschnitt durch zwei deutsche Rumtreiber signifikant gesenkt wird. Während des Rundgangs erläutert sie Ausstellungsstücke; die Räume beschreiben chronologisch Josef Stalins Werdegang.

Gleichförmig wie von Schallplatte, aufmerksame Zuhörer

Gleichförmig wie von Schallplatte, aufmerksame Zuhörer

Ihre Sätze scheinen eingepaukt wie eine lange Ballade. Ein Gedicht, von dem sie seit Jahren mit keiner Silbe abweicht. Wie das Museum selbst scheint auch sie mit ihren  Informationen in der Zeit stehengeblieben zu sein. Falls sie jemals Spaß daran gehabt hat, dieses Museum zu erklären, so ist ihr dieser vor langer Zeit verloren gegangen. Also stochert sie mit dem Zeigestock an den Wänden entlang und erzählt die Geschichte monoton, inhaltlich konform mit dem Neostalinismus der Breschnew- Ära. Die Augen der Rentnergruppe verfolgen dabei den Stock minutiös, selten traut sich jemand, den Fotoapparat in die Hand zu nehmen und etwas Verstaubtes festzuhalten.

Stalin und Nagellack

Stalin und Nagellack

Jeder Raum wird von einer Aufpasserin bewacht, deren Darstellung von Desinteresse sich nicht nur darauf beschränkt, aus dem Fenster zu schauen. Allen Museumsmitarbeitern steht auf die Stirn geschrieben: „Was interessiert ihr euch denn für diese unaufgeklärte und uninteressante Unkultstätte?“
Mich fasziniert unsere Gruppe. Wir bekommen heraus, dass sie US-Amerikaner sind, einige Kanadier sind auch darunter. Manche sehen aus, als würden sie sich noch hier im Museum für ein Ableben entscheiden wollen. Teilweise tief gebückt steigen sie die Treppen auf und ab. Eine Teilnehmerin lässt es sich aber nicht nehmen auf die Knie zu gehen um sich irgendeinen Nerzmantel am Saum zu betrachten. Kurz bevor ich mich dazu entscheiden kann ihr aufzuhelfen, stützt sie sich in einer Meidbewegung selbst wieder in die Senkrechte.

Ist das wirklich ein echter Nerz?

Ist das wirklich ein echter Nerz?

„So, we go to the next room.“ sagt unsere Kursleiterin, wenn sie das Gedicht eines Raumes abgeschlossen hat und ich vermute den Schimmer eines ehrlichen Lächelns. Ich glaube, ich kann ihre Gedanken lesen: „Zum Glück wieder eine Strophe geschafft“.
Stalin in jung, Stalin als Revolutionär (keine Erwähnung der Banküberfälle u.ä.), Gemälde von der Flucht aus einer der Gefangenschaften, heroisch am Hang in die Ferne schauend, um ihn herum die Jünger, die zu ihm aufschauen, Stalin vor einem GAZ, einen Scheibenwischer inspizierend (kein Bild von den ersten Limousinen, die noch aus Europa teuer importiert wurden), Stalins Familie (keine Erwähnung des ermordeten Teils, das Nicht-Austauschen seines Sohnes in Kriegsgefangenschaft wird als revolutionär heldenhaft beschrieben; keine Erwähnung, dass ihm der ältere Sohn egal war), Stalin beim Popeln (nur ein kurzer Aufmerksamkeitstest).

Stalins Totenmaske

Stalins Totenmaske

Kaum etwas über Stalin im Krieg – wie auch, die meiste Zeit war er ja bockig, weil sein Idol Hitler ihm den Krieg erklärt hatte, nichts über Zwangskollektivierung und Deportationen, abgesehen von folgenden Satz: „Es ist in der revolutionären Zeit viel falsch gelaufen, aber erst unter Stalin gab es Industrialisierung und Fortschritt.“ Als wir das Museum verlassen und unsere Leiterin die Tür zum überbauten Geburtshaus Stalins aufschließt, damit wir eine Kammer mit zwei Stühlen und einem Tisch ansehen können, sagt eine Touristenoma, so hätte sie sich immer eine sozialistische Museumsführung vorgestellt. Zum Schluss noch die Begehung des Wagons, mit dem Stalin durch die Lande fuhr. Abgesehen von einer Oma kraxeln alle die steilen Stufen hoch. „Ach, das ist die Küche.“ „Ich habe gehört, er hatte einen Vorkoster.“ „Und schau mal hier, das Badezimmer.“

Stalins Klo

Stalins Klo

Endlich sind wir aus dem Wagon raus, die Tour ist geschafft, ein halbstarker Gorianer testet seine Skateboardkünste zwischen unserer Rentnergruppe, ich glaube, er will provozieren.
Gori ist eine der Städte, aus welcher wohl jeder Einwohner raus möchte. Das Rathaus wurde von deutschen Zwangsarbeitern Ende der fünfziger Jahre gebaut. Wegen der Glaskuppel nennen es die Einwohner „Reichstag“. Der Bahnhof besteht aus einer Eingangshalle mit zerbrochenen Fensterscheiben und Staubpatina. Eine sozialistische Spiel- und Sportstätte rostet vor sich hin. Industrie am Rand der Stadt besteht wie in ganz Georgien aus Ruinen. Der Fußballtrainer lässt seine zwölfjährigen Spieler schnellstmöglich eine hohe Betonstufe hoch und runter springen. Dazwischen wird Rasen gemäht und Bäume werden beschnitten. Es gibt sehr gutes Schawarma. In den Vorgärten wird, wie fast überall, Gemüse angepflanzt. Wir haben noch ein paar Stunden Zeit, bis unser Zug nach Batumi fährt und schlagen die Zeit tot. Dann besuchen wir das “Read Cafe”. Aber dazu mehr in der nächsten Folge.
Bahnhofshalle Shopping Mall am Bahnhof Bahnhofskiosk Früchte auf dem Dach Bauarbeit "Reichstag" Zweie bei Stalin Die Stadt aus der Sicht der Burgruine Rostiger Spaß Starkstrom nach Nirgendwo vergessene Schönheit Zug nach Batumi

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Eine unverarbeitete Geschichte http://www.hntrlnd.de/?p=760 http://www.hntrlnd.de/?p=760#comments Mon, 12 May 2014 06:26:01 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=760 Blick hoch zum Konferenzgebäude des Genozide Museums

Blick hoch zum Konferenzgebäude des Genozid Museums

Wie soll man den Mord an zwei Millionen Menschen begreifen können? Wie soll man nachvollziehen, was solch eine Tragödie bei Verwandten, Bekannten, Überlebenden ausgelöst hat? Wie kann man diese Geschichte kurz und zusammenfassend erläutern, wenn sie eben nicht nur mit der Leugnung durch die Türken und dem Gedächtnis der Armenier zu tun hat, sondern auch mit den damaligen weltweiten politischen Verstrickungen, in deren Konsequenz das Töten von über zwei Millionen Armeniern, Assyrern und Griechen als Kollateralschaden hingenommen wurde? Da ich selbst zu einem Tätervolk gehöre, das auch auf Grundlage und mit den Erfahrungen und Berichten dieses Genozids seine noch brutalere und bedingungslosere Vernichtung von Leben veranstaltete, darf ich dann diesen thematischen Einstieg zum Vernichtungsplan der Jungtürken vor 99 Jahren schreiben?
Mir bleibt nichts übrig, als zu schreiben, ohne eine der Fragen beantworten zu können:

Eingangsbereich

Eingangsbereich

Ende des 19. Jahrhunderts war das Osmanische Reich politisch und wirtschaftlich völlig rückständig im Vergleich zum industrialisierten und sich langsam demokratisierenden Europa. Besonders dem aufkeimenden europäischen Nationalismus hatte das Riesenreich kaum etwas entgegenzusetzen. Bereits ab 1850 gab es Ansätze, den Staat neu zu konsolidieren. Im theokratischen System begann eine Säkularisierung, die besonders in wirtschaftlich- technischer Hinsicht Früchte trug. Hochverschuldet in Europa und auf dessen technische Unterstützung angewiesen, gab es aber kaum eine staatliche Souveränität. Der 1876 ins Amt gehobene Sultan Abd-ul Hamid forderte von Armee, Brigaden und Spionen das sofortige Eingreifen bei Aufständen. In vielen Provinzen gab es in der Folge erste blutige Progrome, bevorzugt an den Armeniern. Meist aber nicht infolge von wirklichen Aufständen, stattdessen wurden diese von lokalen Machthabern vorgegaukelt, um sich besser stellen zu können oder um sich zu bereichern. Es gibt zahlreiche Berichte über die Auslöschung ganzer Stadtteile, aber nur spärliche von Aufständen oder Unruhen. Das armenische kulturelle Erbe ist bis heute höflich, leise und gewaltlos. Bereits bis zur Jahrhundertwende starben durch die Gewaltanwendung türkischer Beamter 300.000 Armenier. Bereits 1902 veröffentlichten der Sozialdemokrat Eduard Bernstein und der Pfarrer Otto Umfried das Buch „Armenien, die Türkei und die Pflichten Europas“. Europa kannte also die bereits geschehene Gräuel, Abd-ul Hamid hält sich jedoch nur in der verkitschten europäischen Erinnerung als der grausame Herrscher im Orient, seine Unfähigkeit, das Reich zusammenzuhalten und zu reformieren, führen zu seiner Absetzung 1909.

"Mutter erhebt sich aus der Asche" - Statue zur Erinnerung an jene, die im Genozid 1915 umkamen, ihn überlebten und vor ihm flüchteten. (2001)

“Mutter erhebt sich aus der Asche” – Statue zur Erinnerung an jene, die im Genozid 1915 umkamen, ihn überlebten und vor ihm flüchteten. (2001)

Die Armenier schweben in dieser Zeit zwischen dem Protektorat des russischen Zarenreichs und den Ausschreitungen des osmanischen Staates, ohne feste Grenzen bei ihrem heiligen Berg Ararat, der allein in die Höhe ragt und auf dessen Gipfel Noahs Arche aufgelaufen sein soll. Ansonsten führen sie ein assimiliertes Leben in türkischen Städten, bestimmt schon auseinandergesetzt mit dem inzwischen aus Europa importierten Rassismus. Die bis dahin von Hamid unterdrückte jungtürkische Bewegung konsolidiert sich als neue Führung des osmanischen Reiches.
Eine erste Amtshandlung der Jungtürken besteht in der Ausrottung der streunenden und friedlichen Hunde in Istanbul. Der Vorschlag eines französchen Wissenschaftlers, sie in Gaskammern zu töten, wird nicht umgesetzt. Stattdessen werden sie eingefangen und auf einer kleinen Insel ausgesetzt, auf welcher sie jämmerlich verhungern.
Gleichzeitig werden in Adana, Kessab, Latakia, Bazit und Antiochia tausende Armenier getötet und in den Fluss geworfen. Seeleute eines französischen Kreuzers berichten: „An der Küste sieht man nun schon, daß sie auf dem Wasser treiben, weil die Strömungen sie herantragen, und auf den europäischen Kriegsschiffen kann man beobachten, wie sie langsam, verstümmelt und aufgebläht, am Bug vorbeiziehen …“
Während Leo Trotzki anfangs die jungtürkische Bewegung als revolutionäre Kraft einschätzte, hatte er wohl schnell feststellen müssen, dass mit dem Import des in Europa stark verbreiteten rassistischen Gedankenguts die Morde des abgewirtschafteten Osmanischen Reiches sich wiederholten.
Drei Männer aus der jungtürkischen Bewegung hatten 1914 die absolute Macht im Osmanischen Reich. Der Innenminister Talaat Pascha, der Kriegsminister Enver Pascha und der Marineminister Dschemal Pascha. Sie nannten sich „Komitee für Einheit und Fortschritt“. Der Panturanismus setzte sich unter ihnen schnell als Ideologie durch. Der Rassismus, auf Blut und Boden für die Türken begründet, erstickte viele liberale und revolutionäre Hoffnungen. Gleichzeitig ist es die Geburt der Türkei. Der erste Weltkrieg beginnt und das Deutsche Kaiserreich pflegt beste Beziehungen und Bündnisse mit dem neuen Land. Während ganz Europa mit seinem Stellungskrieg beschäftigt ist, wird der Genozid vorbereit, den die Türkei bis heute verleugnet. Im ersten Schritt werden armenische Kulturschaffende, Geschäftsleute, Ärzte, Journalisten und Beamte verhaftet und umgebracht.

Die ewige Flamme

Die ewige Flamme

Der amerikanische Botschafter Henry Morgenthau konsultierte Innenminister Talaat Pascha und sprach ihn auf die Armenier an. „Warum interessieren Sie sich für die Armenier?” fragte dieser. „Sie sind doch Jude, und diese Leute sind Christen.” Die rassistische, menschenverachtende Argumentation gehörte bereits unverblümt zur Staatsräson.
Es wurde die Spezialorganisation „Teskilat-i-Mahsusa“ gegründet, welche sich großteils aus Häftlingen rekrutierte, die sich mit der Entlassung verpflichteten, jedem Befehl zu folgen, dafür aber straffrei ihre befohlenen Taten begehen konnten.
Der Genozid beginnt und es werden Informationen verlangt: „Wurden die gefährlichen Elemente massakriert oder lediglich aus den Städten vertrieben und deportiert? Teile es mir klar und deutlich mit, mein Bruder!” erkundigte sich Doktor Behaeddin Schakir Bey, Absolvent der Kaiserlichen Medizinischen Fakultät und nun Sonderbeauftragter in Sachen Armenien. Ab dem 24. April 1915 gibt es kein Halten mehr. Die Berichte von ausländischen Beobachtern zeigen, wie ungläubig und abgestoßen sie den Morden zusehen. Nach der Ermordung der armenischen Elite werden die armenischen Männer, meist Zwangsarbeiter in der Armee, ermordet. Es gibt Übergriffe in allen Ecken des Landes, Leichenberge. Übrige armenische Männer, Frauen und Kinder werden auf Gewaltmärsche durch das Land geschickt, von Klippen gestürzt, in Höhlen getrieben und ausgeräuchert, auf Schiffe getrieben und versenkt. Innerhalb kürzester Zeit sind weitere 1,5 Millionen Armenier tot. Der neutürkische Rassismus hat eine gesamte Kultur und seine Menschen so gut wie ausgerottet. Die Welt hielt sich aus dem Genozid raus, zu stark waren die Bestrebungen, selbst Anteil am Aufbau und am Profit der Türkei zu haben. Russlands Protektorat gab es nur noch auf dem Papier. Für die Verteidigung der bolschewistischen Revolution wurde das Militär aus dem unter seinem Schutz stehende Armenien abgezogen.

Blick von den Cascaden auf Yerevan

Blick von den Cascaden auf Yerevan

Im nächsten Jahr begeht Armenien den 100. Jahrestag der Gräueltaten. Das Land musste hart bezahlen für die Machtspiele einer Welt, an denen es selbst nie teilnahm. Es wäre angemessen, wenn auch kaum vorstellbar, dass die türkische Regierung als Zeichen der Erkenntnis und Reue diesen Jahrestag mitbegeht. Deutschlands Geschichte fußt auf einer unvorstellbaren Menge Blut, dass die Welt hat fließen lassen müssen. Die Gräueltaten Nazideutschlands haben andere und unvergleichbare Dimensionen. Wir dürfen es nicht zulassen, dass wir uns dieser Schuld nicht bewusst bleiben. In seiner Obersalzbergrede vor der Wehrmacht nutzte Adolf Hitler explizit den Genozid als Argument für das strategische Töten, welches unter seinem Befehl in den folgenden Jahren Europa heimgesucht hat: „So habe ich, einstweilen nur im Osten, meine Totenkopfverbände bereitgestellt mit dem Befehl, unbarmherzig und mitleidslos Mann, Weib und Kind polnischer Abstammung und Sprache in den Tod zu schicken. Nur so gewinnen wir den Lebensraum, den wir brauchen. Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“
Ich wünsche Armenien einen weiteren, unblutigen und erfolgreichen Gang in der Welt und freue mich, wenn es sich seine freimütige und freundliche Gesellschaft erhält, die ich fünf Tage lang erleben durfte.

Vielen Dank an Adam J. Sacks, den wir im Hostel in Yerevan trafen. Er hielt im Genozid Museum in Yerevan Vorträge und diktierte mir an einem Abend derart viele Quellen, Namen und Zusammenhänge, dass sie für ein kleines Buch reichen würden. Bestimmt wird mein kleiner Artikel nicht seinem Wunsch nach einer wirklich ausführlichen Information über die Gräuel gerecht.

Links:
www.genocide-museum.am/eng/
www.genocide-museum.am/eng/conference-2014.php
de.wikipedia.org/wiki/Völkermord_an_den_Armeniern

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Russlands Riviera http://www.hntrlnd.de/?p=709 http://www.hntrlnd.de/?p=709#comments Tue, 06 May 2014 05:24:58 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=709 Gesellschaftliches System zur Klassifizierung von Objekten der touristischen Industrie

Gesellschaftliches System zur Klassifizierung von Objekten der touristischen Industrie

Vor 27 Jahren legte mein Opa fest, daß er die Fotos entwickeln würde. Das sei nötig, denn der Filmtransport hätte nicht richtig funktioniert; wenn man die Filme in die Entwicklung geben würde, kämen garantiert keine brauchbaren Bilder heraus. Im Hotel “Tschemschuschina” wurden die Filme unter der Bettdecke aus der Kamera genommen und lichtsicher verpackt. Am Ende gab es kein einziges Foto, denn alle Filme waren doch vor der Entwicklung belichtet.
Heute fragt die digitale Fotografie nicht nach Filmentwicklung. Die Impression versucht sich sofort im digitalen Speicher zu bebildern.

Vorzeigearchitektur der Achtziger

Vorzeigearchitektur der Achtziger

Das Hotel „Tschemtschuschina“, also „Perle“, gibt es immer noch. Ich bin mir sicher, dass die vier Sterne neben dem Logo schon zu Intourist- Zeiten repräsentativ dazugehörten, aber sie sagen wohl nichts über Qualität aus. Denn wenn man erst mal piepend durch die scheinbar unbewachten Metalldetektoren ins Innere des Hotelkomplexes gelangt ist, erscheint der Raum immer noch in sozialistischer 80er-Jahre- Architektur. Ich versuche, mich zu erinnern, hatte immer vermutetet, die Größe des Hauses hätte mich derart beeindruckt, weil ich damals kleiner Jungpionier war.

"Perle" - Sternstunde des UdSSR-Tourismus

“Perle” – Sternstunde des UdSSR-Tourismus

Aber der Eindruck bleibt, das Haus ist riesig und hässlich, die Ein- und Ausgänge sind immer noch im russischen verkupferten Design, das ich aus den Achtzigern kenne, die typische Farbe jeder damaligen Metrostationstür.
Die Eingangshalle ist in ihren Dimensionen trotzdem stark geschrumpft. Eingemietete Läden bilden eine kleine Stadt innerhalb des riesigen Hotelkomplexes.
Sochi ist bereits Anfang Mai gut besucht, im Sommer werden sich Touristenmassen von den Hotels zum Strand schlängeln, jetzt sind die Promenaden und Parks noch begehbar genug zum Schlendern und Staunen. Die Sonne scheint bereits heiß und heftig.

Dazwischen manchmal der Blick aufs Meer

Dazwischen manchmal der Blick aufs Meer

Die Promenade hat ihre Weitläufigkeit eingebüßt. Das Kleingewerbe mit seinen Läden hat sie zu einer kilometerlangen Einkaufszeile gemacht. Getränke, Eis, Souvenirs (sehr viele Olympia-Reste), Fußputzerfischsessions, Schießbuden, Flipflops, Fastfood, Massage, bekannte Touristenfallen und neue Geschäftsideen drängen sich aneinander und stellen Überfluss dar. Die Preise sind europäisch minus zehn Prozent.
Mitsamt den Hotel- und Ressortneubauten ist Sochi verwinkelt und kleinteilig geworden. Dabei ragen die Bettenhäuser in den Himmel. Lenin wird an allen Seiten von werbebeschilderten Wolkenkratzern bewacht.

Das Lenindenkmal und seine Bewacher

Sochis Lenindenkmal und seine Bewacher aus Stahlbeton

Zwar werden auch die Parks vom Neubau bedrängt, ihre subtropische Schönheit haben sie dabei nicht verloren. Licht und Schatten laden im Grün der Platanen und Palmen zum Hinsetzen und Gucken, oder Dösen ein, der verspiegelglaste Horizont kann schnell ignoriert werden.
Kann ich durch Sochi schlendern und mich erinnern? Nein, das kann ich nicht. Das ein Vierteljahrhundert alte Bild gibt es nicht mehr. Wie in jeder russischen Boomtown wird das Alte vom Neuen eingebaut und überbaut, bis es verschwunden ist. Wenn ich mich nicht mehr erinnern will, finde ich eine auf Massentourismus spezialisierte Idylle vor, in der sogar ich mir Pauschalurlaub zwischen Spa und Steinstrand vorstellen könnte.

Parkidylle, Spiegelglas, Kunstbisnes

Parkidylle, Spiegelglas, Kunstbisnes

Mein Opa war Ökonom und kannte die realen Zahlen. Ich vermute, dass er nach Sochi den irrationalen Gedanken hatte, sein Sozialismus hätte doch eine Chance, zu schön war es hier. Kurz nach dem Sochi-Urlaub ist er gestorben. Völlig überarbeitet und zu viel geraucht hat er auch.
Nach dem brachialen Urkapitalismus der Neunziger fängt der neue russisch geplante Kapitalismus an zu funktionieren. Die Ruinoks sind sauberpoliert und voll mit Waren und Lebensmitteln aus allen Teilen des Riesenlandes, das Angebot ist beeindruckend. In Sochi und Adler gibt es keine offensichtliche Armut. Bestimmt staatlich forciert, denn hier soll Urlaub gemacht werden, ohne Sorge. Die ganze Welt kann in den überdimensionierten Bettenstädten um Sochi herum einquartiert werden. An den teilweise künstlichen Steinstränden wird in diesem Sommer über hunderte Kilometer hinweg sonnengebadet. Alles ist da, Mangel wird aus dem Wörterbuch gestrichen. Schöne neue Überflusswelt.

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Sotchi-Soufflee http://www.hntrlnd.de/?p=700 http://www.hntrlnd.de/?p=700#comments Sun, 04 May 2014 17:55:05 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=700 _IGP8039Wieder mal weiß ich mir nicht anders zu helfen, als die zahlreichen Eindrücke, diesmal aus Sotchi am Schwarzen Meer, in kurze, möglicherweise polemisierende Sätze zu pressen. Aber Polemisierung ist in heutiger Zeit ja nichts ungewöhnliches, also:

Sotchi gab es schon vor der Olympiade, man glaubt es kaum, nur mit ein paar tausend Betten weniger. Das alte Sotchi ist größer als man denken mag, schöner, als man sich vorstellen kann und doch nicht immer gewünscht; wenn es einer Autobahn im Weg stand, wurde es hinter Mauern versteckt. _IGP8021

Das alte Sotchi besteht aus wundervollen Sanatorien, einer beeindruckenden Flora und Fauna, Palmen, Delfinen, Meer und Bergen, krummen Straßen, Wasserfällen, bellenden Hunden hinter Stahltüren, Frauen ohne Schuhe, wilden Gebirgsmenschen, Bettlerinnen vor orthodoxen Kirchen, die Lenin-Statue ist eingerahmt von Fünf-Sterne-Marriot, 20-stöckigem Hochhaus und Souvenierstand. _IGP7953

Das neue Sotchi versucht, sich kulturell wie optisch anzuschmiegen, erdrückt aber aufgrund seiner Größe, Menge und möchtegern-europäischer Gestalt, verbunden mit postsowjetischem Größenwahn. Fast alle Häuser sind nicht älter als ein Jahr, in Farben, die nicht wehtun, aus Baustoffen, die nichts wiegen, die drei Schweinchen würden wohl ein anderes Haus wählen. Einiges bis vieles scheint Fassade; an vielen Fenstern finden sich noch Aufkleber der Fensterfabrik oder Schilder, die eine Vermietung anpreisen, Dachrinnen führen ins Nirwana, Straßen ins staubige Nichts. Grünanlagen müssen erst noch wachsen, Coca-Cola-Lagerhallen noch abgebaut werden, die Formel 1 kommt ja auch noch, und dann erst die Fußball-WM, Urbanisierung und Bevölkerung findet noch nicht statt, zentrale Marketingkonzepte zur Vermeidung des Leerstands werden noch entwickelt, usbekische Gastarbeiter tauschen mit rauchenden Wachmännern argwöhnische Blicke. Dass man in Russland ist, teilen einem nur noch die Ladas und der Blick aufs alte Sotchi mit. Das neue Straßennetz, was hier gebaut wurde, ist beeindruckend oder verwirrend und wäre nach deutschen Umwelt- und Bauschutzrichtlinien etwa 2040 fertig geworden oder auch gar nicht. Hier wurde es einfach gebaut, weil es nötig war und die Kröten müssen nun einen Umweg nehmen, weil genug Kröten dafür bezahlt wurden.

Im McDonalds an der Strandpromenade muss man erst an einem Schalter bestellen und bezahlen, dann die Quittung gegen die Burger bei der Gewichtheberin am anderen Schalter tauschen. Typisch russisch, sagt man mir. Das System oder die Gewichtheberin? Etwas weiter weg schallt aus einer Bar am Strand Musik mit Texten über die Schönheit des Soldatenlebens, ein paar Frauen singen mit. Aber keine Fahnen weit und breit und auch kein Interesse, über Politik zu reden. Es läuft doch alles. Und der Leerstand im neuen Sotchi sei kein Problem, es sei doch alles bezahlt.

Die Kassiererin im Supermarkt in Krasnaja Poljana, dem Wintersportort 40km hinter Sotchi im Gebirge, wollte mich töten, weil ich kein Kleingeld hatte. Vielleicht hatte sie ja nur ihre Tage, ich komm nicht wieder, keine Frage. Um dorthin zu kommen, musste ich durch eine Sicherheitsschleuse schlimmer als am Flughafen. Kameras alle 100 Meter, Polizisten alle 500, Herr Putin hat sich angekündigt. Security first! Zu DDR-Zeiten konnten reiche Ossis hierher reisen, auch jetzt braucht man Geld, hier ist alles teurer, aber auch besser als woanders. Freu dich doch über das neu entstandene! Das ist der Fortschritt! Schau dir unser Wirtschaftswachstum an! Man muss nicht alles immer in Frage stellen.
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Unser Gastgeber André sagt, ich soll doch auch mal was von der Schönheit hier schreiben. Nichts leider als das, Piggeldy: Keine Briefkästen, keine Rechnungen, frischer Fisch und Schaschlik in großer Qualität und zu kleinen Preisen. Brot mit Nüssen und Trockenfrüchten, Alkohol in schon medizinischer Qualität, ich bin sauber betrunken. Der Kaffee, die Gewürze, die Gerüche, die Frauen! Den letzteren gibt man übrigens nicht die Hand, weil Handgeben ein archaisches Zeichen für das Nicht-Tragen einer Waffe ist und Frauen nun mal nicht im Sumpf mit der Kalashnikow im Anschlag liegen. Die Sümpfe hier sind nämlich trockengelegt, die größte Hängebrücke der Welt (für Fußgänger) ist gerade fertiggestellt, leider findet man nicht hin, weil’s noch keine Schilder gibt.

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Ukraine-Stakkato http://www.hntrlnd.de/?p=599 http://www.hntrlnd.de/?p=599#comments Thu, 01 May 2014 06:34:12 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=599 DSC01281Die folgenden Zeilen sind sicher politisch unkorrekt und in jedem Fall unsortiert, aber so fanden sie den Weg in mein Notizbuch während der Zugfahrt nach Sotchi. Ich erhebe keinen Anspruch auf Vollständigkeit und Richtigkeit:

Egal, wie die Gegend aussieht, die Kirchendächer glänzend blau und gold. Kaputte Fassaden, Küchen aus dem Katalog. Das Land so weit und so fruchtbar, aber auch so zerstritten. Kinder vor Karriere. Absatzschuhe wie Hochhäuser. Die Alten wollen die Sowjetunion zurück, weil da alles besser war. Ganz unrecht haben sie nicht. Die Jungen wollen Europa, weil da alles besser wird. Ganz unrecht haben auch sie nicht. Nicht jeder Freund Russlands ist ein Separatist, nicht jeder Freund Europas ein Nazi. Es gibt tatsächlich noch Leute, die einfach nur ihr Leben leben. Nationalbewusstsein entwickelt sich rasant, die Legislative kommt nicht mehr mit. Die Exekutive ist hilflos. Die Judikative schleppt sich hinterher. Der Bart Schevschenkos ist das Weinen der Ukraine. Geweint wird oft, mal mit Recht, mal ohne Verstand. Wer war nochmal Lenin, bitte? Regeln braucht der, der Regeln braucht. Wo kein Lichtschalter ist, muss auch keine Lampe hängen. Wie könnte man ein Land teilen, dass sich gar nicht einig ist? Eine Nation, reduziert auf schlechte Nachrichten. Die Krise. Die Russen sind schuld. Nein, die CIA. Oder Europa! Europa? Wir sind Europa! DSC01243Eine Nation der Zweitverwertung. Muss man eigentlich alles importieren? Es gibt doch eigene Firmen. Kein TÜV, keine Autobahn, keine Kindersitze. Bleifarbe an Klettergerüsten, dafür viel Kinderlachen. Es ist erstaunlich viel umsonst. Erstaunlich viel funktioniert einfach so. Schönheit muss nicht immer sein, oft reicht Nutzwert. Dicke Männer, dünne Frauen – Zeichen von Wohlstand. Aber das ganze Gejammer. Kippen schmeißt man nicht auf den Boden, rauchen ist fast überall nicht gern gesehen. Kulturlandschaften, die welche waren, sind oder noch werden sollen. Geringere Wertschätzung von Leben. Freundlichkeit ist in der Öffentlichkeit nicht angebracht, im persönlichen Umgang umso mehr. Leiden und Aushalten. Zu kleine Wohnungen. Kaum Supermärkte. McDonalds ist feines Essen. Überall nur Prepaid-Handys. Rostig funktioniert. Donbass gegen Lwow. Oben gegen unten. Rechts gegen links. Identifikation durch Abgrenzung nach außen und innen. Goldzähne, Gardinenfädenextensions, Augenbrauen in der Mitte der Stirn, Wangenknochen aus Himmel und Hölle. Irgendwo singt irgendwer immer die Hymne. Wie schön sie klingt, so traurig, so stark. Korruption, die alles irgendwie zusammenhält. Offensichtlich. Verbote nicht erfragen, einfach darüber hinwegsetzen. Recht ohne Verstand. Gewaltbereite Idioten auf allen Seiten mit Stöcken in der Hand. Ständige Suche nach Gründen. Billige Zigaretten sind schlechte Zigaretten. Anderes Frauenbild. Adidas, New Balance, spitze Lederschuhe. Musik wie eine Dusche. Blinklichter zeugen von Gemütlichkeit. Fleisch ist billiger als Obst. Vieles selbstgemacht statt neu gekauft. Stolz und Vorurteil. Die Gedanken sind frei. Verwinkelte Effizienz. DSC01287Man kann sich auch mal mit Dingen abfinden. Soviel Misstrauen, unverständlich und auch nicht. Schönes, reiches Land, warum weinst du? Zwei Sprachen im Ohr, zwei Herzen in der Brust. Übermalte Symbolik.

Ich gehe davon aus, dass mir viel davon wieder und wieder auf den nächsten Kilometern begegnen wird, denn dies ist der Anfang.

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Kharkov- Ukraine- Welt: Ein Essay http://www.hntrlnd.de/?p=522 http://www.hntrlnd.de/?p=522#comments Fri, 25 Apr 2014 16:31:03 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=522 Lenin und seine Bewacher

Lenin und seine Bewacher

Das Verblüffende an den russischen Separatisten ist, dass man sie im Stadtbild nicht wahrnimmt. Wären da nicht die zehn Omas und Opas, die mit ihrer Fahne der russischen Armee vor dem Lenindenkmal sitzen. Für wenige Stunden ist ein weiterer Stand aufgebaut, dessen Fahnen das Orange-Schwarz gestrichene mit dem bekannten Rot ergänzen. Rechts die Fahne der UdSSR, links die Fahne der ukrainischen Arbeiterpartei. Neben Hammer und Sichel wird diese um den Namen der Partei ergänzt.
Wir setzen uns etwas abseits auf die Sockeltreppe und trinken zuvor erworbenen Kaffee. Die Sonne wärmt den Rücken.
An dem Stand erklingen die Internationale und andere bekannte Kampflieder. Ein Opa mit Schirmmütze wacht über die Technik aus den Achtzigern. Ein anderer, dem Aussehen nach eine Mischung aus Schachweltmeiter, Leiter einer UdSSR Reiszweckenfabrik und arbeitslosem Professor, dringt gerade als Ein-Mann-Propagandaministerium in die Köpfe zweier wahrscheinlich aus Versehen vorbeigelaufender Jugendlicher ein. Sie hören höflich zu, ihre Gestik vermittelt aber starke Fluchtgedanken.

Bewacher s chauen auf einen großen leeren Platz

Bewacher schauen auf einen großen leeren Platz

Kharkov ist eine Studentenstadt. Man sieht ihr sofort ihre Internationalität an. Selbst der extrovertierteste Australier könnte hier keine besondere Aufmersamkeit erregen. Angst vor Fremdem muss in dieser Stadt zu einer aussterbenden Emotion werden.
Zwar ist die russische Grenze nicht weit entfernt und Russisch ist eindeutig die Hauptumgangssprache, trotzdem unterstelle ich der Stadt eine Immunität gegen Extremismus, die Vielfalt ist zu groß. Der eine oder andere alte Ordenträger wird ergänzen wollen, dass Kharkov erst durch seinen Aufbau in der Sowjetunion die monumentale Schönheit erhalten hat, dem möchte ich nicht wiedersprechen. Die Freiheit, die sich im Stadtleben wiederspiegelt, die Vielfalt an Läden und Gütern, die modernisierten Häuser und Parks sind aber Errungenschaften der letzten 24 Jahre. Nostalgie und Traditionalismus können dieses offensichtliche Bild nicht widerlegen.

Premier Hotels

Premier Hotels

Froh sind wir, dass wir bei unserem dritten Stop in der Ukraine endlich den ersten Lenin gefunden haben. An dieser Stelle zitiere ich eine ukrainischstämmige Freundin: “Schade finde ich nur, dass sie Lenin überall entfernen. Ich mag Deduschka Lenin.”
Hier könnte man vermarktbaren Kult erahnen, Hagen Rether formulierte es mal treffend: “Che Guevara? Ist das nicht der, der den Latte Machiato erfunden hat?”
Der sozialistische Versuch, oder Alptraum, kommt auf die Sichtweise an, ist längt ohne historischen Bezug zur Modemarke geworden, kurzzeitig hip, weil nicht Mainstream, dann bereits Motiv in der Raucherecke des Schulhofs, danach die Absatzschwäche des Modelabels, eine Idee hat sich verkauft, keine Nachfrage mehr.
Wir werden auch in Russland sehen, wie die Suche nach neuen Absatzmärkten mit ihren Großkonzernen und Werbebotschaften das Leben bunter und gierig nach neuestem Klimbim gemacht hat. Den Anstieg der Lebensqualität werden wir wahrnehmen, den harten Kampf des Mittelstandes um sich selbst, das egoistische Kleinbürgerliche als Lebensziel, nicht mehr drangsaliert vom ideologischen Überbau, aber in einem Staat mit einem unterbezahlten Sozialsystem. Putin wird nur kurzzeitig alte Strukturen für seinen Machtausbau nutzen können. Und wenn ihr mich fragt, Europa sollte mal schön die Schnauze halten und aufhören, mit sinnlosen Sanktionen zu drohen. Eine Gesellschaft, für deren Festhalten an der Idee eines Wirtschaftwachstums Näherinnen unter zusammenbrechenden Fabrikhallen begraben werden, deren Müllentsorgung in anderen Regionen die Lebenserwartung derer, die dort versuchen mensch zu sein, auf kaum erwachsen – schon tot senkt, um nur zwei Beispiele ihres Schmarotzertums zu benennen, erstickt bei jeder Menschenrechtspredigt sofort an ihrer Doppelmoral.

Ruhm den Helden des Krieges 1941 - 1945

Ruhm den Helden des Krieges 1941 – 1945

In der Ukraine gibt es nun wieder Kriegsanleihen. Man kann auf verschiedensten Wegen und mit kleinen Beiträgen die Armee unterstützen. Der Militarismus ist auf dem Vormarsch.
Die Werbung zeigt eine zu Tränen gerührte Mutter mit Proviantkörbchen hinter dem Kasernenzaun, die ihrem Sohn beim Exerzieren zuguckt. Millionen wurden bereits mit solchen Kampagnen in den Verteidigungshaushalt gespült. Es wird wohl nicht lange dauern, bis nicht nur die Soldaten wieder einen Sold bekommen, sondern auch schöne neue Leopard-II-Panzer zur Verteidigung der Souveränität eingekauft werden können.
Wir spazieren mit Kosko, einem Bekannten aus Kharkov, durch die Stadt und er berichtet stolz, dass er regelmäßig ein paar Cent mehr für eine sms bezahlt, um die Armee zu unterstützen. “Warum?” frage ich “Glaubst Du wirklich, Eure Armee hätte eine Chance gegen die zweitgrößte Militärmacht der Welt?” “Nein” “Na dann feiert doch Eure erneuerte Freiheit und sagt den Russen, na los, schießt uns doch zusammen, wir haben sowieso keine Chance.” “Du verstehst das nicht.” sagt Kosko und da hat er recht, ich verstehe es nicht. Ich habe ja auch keine Ahnung vom Alltag in einem System in welchem die Gewaltentrennung kurz vor dem Zusammenbrechen ist, weil sie nicht mehr finanziert werden kann.

Kharkover Stadtleben

Kharkover Stadtleben

Wir spazieren also durch Kharkov und sind begeistert von der Stadt. Innerhalb von 300 Jahren wurde an ein paar kleinen Flüsschen eine Zweimillionenstadt in die Landschaft gemeißelt. Wenn man hinter den sowjetischen Prunkbauten und Plätzen in eine Seitenstraße einbiegt, entdeckt man urbanes Leben in Vierteln, die von Gründerbauten und Bauhausarchitektur geprägt sind. Modern ist die Stadt und sauber. Der Blick schweift schnell ab zu den Passantinnen, die vielleicht gerade auf dem Weg zur Uni sind, oder zum nächsten Taschengeschäft. Das Lenindenkmal wird weiterhin von zehn Rentnern bewacht. In Slaviansk wurden die ersten prorussischen Besatzer, also Terroristen, von Spezialeinheiten erschossen. Ein proukrainischer Checkpoint in Odessa explodiert. Irgendwo fliegt Jemandem der Hut davon. Angst macht Märkte stabiler und festigt das Oligarchentum von weltweit agierenden, undurchsichtigen Konzernstrukturen, deren wichtigstes Lebensziel eine zufriedene Aktionärsversammlung ist. Wenn dieses Ziel nicht erreicht werden kann, muss man erstmal wieder richtig Schotter machen. Das  klappt am Besten mit der Etablierung eines Feindes und der sinnlosen Produktion von Wehrhaftigkeit. Es gibt keine neue Welt in einem alten Wertesystem.

Kharkov- Ukraine- Welt- Eine Richtigstellung

Nacht in Kharkov

Nacht in Kharkov

Eins war klar – wir würden in dieser Stadt und im Bekanntenkreis keine pro-russische Meinung zu hören bekommen. Eins war mir nicht klar – selbst der größte Peacer unter ihnen würde zur Waffe greifen, wenn es Krieg gäbe. Und er würde auf russische Soldaten schießen, selbst wenn er keine Chance hat.
Aber fangen wir am Ende an: Kosko hat uns nach einem langen Abend ein Taxi bereitgestellt, das uns nach Hause bringt. Ich frage den Taxifahrer auf Russisch, wie der Job so läuft, er sagt, er tut das nur nebenbei, eigentlich bemalt er Dinge, Motorräder und solche Sachen, er rutscht ins Englische. “Paintbrush?” frage ich “Nein, bemalen” sagt er, ich frage nicht weiter nach. “Aber eins ist klar,” redet er weiter, als wenn er die Frage geahnt hätte “ich bin der Erste, der seine Waffe benutzt, wenn sie weiter unser Land angreifen. Sie haben sich einfach die Krim genommen, jeden Sommer bin ich dort gewesen, mein Land, und ich konnte nichts machen.” “Warum solltest Du auch,” frage ich ” Du hättest doch keine Chance?” “Aber ich würde sie erschießen, solange ich kann, sie haben kein Recht, mir MEIN Land wegzunehmen. Ich fahre Taxi, um mir eine Automatische kaufen zu können!”
Er redet nur russisch, wenn er im Englischen nicht weiterkommt, mitten in Kharkov.
“Gibt es denn keine anderen Möglichkeiten” kontere ich, “das ist doch Selbstmord?” “Ist mir egal, mein Land ist kein Bruder der Russen.”
Ich wäre erschüttert, wenn diese Stimmung nicht den ganzen Abend begleitet hätte. Als er uns absetzt, bedanke ich mich für das Gespräch, boxe ihn leicht an die Schulter dabei, er reicht mir die Hand und drückt sie fest.

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Die Besetzung Kharkovs http://www.hntrlnd.de/?p=513 http://www.hntrlnd.de/?p=513#comments Thu, 24 Apr 2014 09:36:24 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=513 Kharkov ist eine Metropole mit zwei Millionen Einwohnern im Nordosten der Ukraine, ca. 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Eine pro-europäische Episode über „die Ereignisse“, wie man das hier nennt, ist folgende: Als die Krim „heim ins Reich“ geholt wurde (auch diese Aussage ist nicht von mir), hatte auch Kharkov mit den Auswirkungen des russisch-ukrainischen Konflikts zu kämpfen. Diese Auswirkungen stellten sich so dar, als dass eine nicht geringe Anzahl angeblich einheimischer Anhänger eines Anschlusses der Stadt an die Russische Föderation ein Verwaltungsgebäude besetzten. In Kharkov gibt es eine große Zahl an Verwaltungsgebäuden, da man diese Stadt getrost als das Zentrum von Bildung und Kultur in der Ukraine bezeichnen kann, hier finden sich zum Beispiel fast alle namhaften Universitäten des Landes. kharkov_1Erstaunlich an der Besetzung des Verwaltungsgebäudes war der Umstand, dass ihr so gut wie keine Gegenwehr entgegengebracht wurde, was man anfangs sicher so deuten kann, dass ein Großteil der Bevölkerung diesen Anschluss befürworten würde.

Als am nächsten Tag, bei Lichte besehen, das Ausmaß der Besetzung deutlich wurde – an einer Ecke hatte es gebrannt, ein paar Barrieren wurden aufgebaut, es gab wohl auch Verletzte – wurde eins besonders klar: Die Aufständischen hatten die Oper besetzt, sich in der Adresse geirrt, das Rathaus steht ein paar Straßen weiter. Welch Glück für diese Stadt, zeigt es doch, warum keiner ihnen Einhalt gebot. Die Oper in Kharkov ist zudem ein sehr, sehr unansehnlicher 70er-Jahre Zweckbau, um den wohl keiner trauern würde, wenn er abgerissen wird. Zudem machte diese Aktion klar, dass unter den pro-russischen Kräften mit Sicherheit kaum Einheimische gewesen sein können, was die Lage in der Stadt augenblicklich stabilisierte. So kam es dann auch, dass die Provokateure, wie man sie seitdem nennt, als sie ihren Fehler bemerkten (und den Bärendienst, den sie ihrer Sache erwiesen hatten), so schnell verschwanden, wie sie gekommen waren, wahrscheinlich teilweise wieder über die Grenze nach Russland. Diese Anekdote ist auch nach einigen Wochen immer noch ein Running Gag in der Stadt; wenn jemand schlecht gelaunt ist, sagt man: „Besetz doch einfach die Oper. Oder iss nen Snickers.“
kharkov_rathaus

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Demonstration in Kharkov http://www.hntrlnd.de/?p=460 http://www.hntrlnd.de/?p=460#comments Wed, 23 Apr 2014 20:27:40 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=460 001Nachdem wir heute in Kharkov angekommen sind, erhielten wir die Information, heute würde „was gehen“, sprich: 18 Uhr solle auf dem Platz der Unabhängigkeit, dessen Denkmal erst vor zwei Jahren errichtet wurde, eine Demonstration „Pro Ukraine“ stattfinden. Also hin da, Kamera nicht vergessen.
DSC00978Während die Demonstration ihren Lauf nahm, der Pater der ukrainischen Kirche die Einleitung sprach und die Menschen sich bekreuzigten, marschierten unbemerkt an der Flanke junge Männer mit ernstem Blick, Turnhosen und Sportschuhen auf; hauptsächlich in schwarz gekleidet. An ihnen waren keinerlei Symbole der Ukraine zu finden, auch keine Spur von Freundlichkeit war zu entdecken, sie machten einen sehr angespannten und ungewöhnlich aufmerksamen Eindruck. Ihr Begrüßungsritual bestand aus einem für mich verdächtigen, gegenseitigen Berühren des rechten Unterarms, und ich hätte ihnen eine Verschärfung der Situation zugetraut, doch dazu kam es nicht, denn sowohl freiwillige Kräfte aus der Demonstranten-Szene als auch die Ultras des hiesigen Fußballvereins Metallist Charkov standen Spalier im Kreis um die Demonstranten.
DSC00956Eine Funktion, die ich eigentlich den zahlreich anwesenden Milizen, Polizisten und paramilitärischen Einheiten zugestanden hätte, doch diese hielten sich deutlich zurück und liefen eher locker zwischen den Anwesenden umher, anstatt einen Formation zu bilden, wie ich es aus Deutschland kenne. Laut der Aussage unsere einheimischen Freundes Kosko sei diesen Einheiten aber sowieso nicht zu trauen und im Ernstfall wisse man hier nicht, für wen sie Partei ergreifen würden, also sei es nur logisch, eine eigene Verteidigungslinie aufzubauen.

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Die Themen, die während dieser Demonstration angesprochen wurden, beschränkten sich hauptsächlich auf das Skandieren etablierter Slogans wie „Slava Ukranina, gerojem slava“
Der Redner ruft: „Kharkiv!“, die Menge skandiert „Ukrania!“. Die Nationalhymne wird gesungen, ich stehe aus Respekt still und mir läuft ein leichter Schauer über den Rücken, weil es wirklich eine schöne Hymne ist und ich solche Bekundungen zum eigenen Staat aus Deutschland nicht kenne und dort auch verurteilen würde, aber das ist gehört nicht hierher, es geht hier nicht ums deutsche Verständnis von Nationalbewusstsein. Soweit ich es dann verstehen konnte, waren die Reden nicht von abstrakten politischen Konzepten geprägt, sondern vielmehr wurde immer wieder der soziale Zusammenhalt der gesamten Ukraine auf einfache Art und Weise thematisiert, besonders feststellbar bei den leiseren Redebeiträgen. Die Redner waren Geistliche, einfache Bürger, Blogger – Politiker habe ich keine entdecken können – die gesamte Demonstration machte auf mich den Eindruck einer von den Bürgern selbstorganisierten Veranstaltung. Kinder waren keine zu entdecken, ansonsten gab die Demonstration alles her, was die Gesellschaft zu bieten hat.

DSC00988Obwohl am Ende alles friedlich ablief, konnte ich eine deutliche Anspannung unter den Demonstranten spüren, was auch an den zahlreich Vermummten gelegen haben mag, die teilweise mit Stahlhelmen und eigenkonstruieren Verteidigungswerkzeugen bewährt waren. Unser Freund Kosko hatte deutlich mehr Respekt vor der Situation, während wir einfach mitten rein gingen und Fotos machten. Aber er ist wohl auch anders geprägt aufgrund der vergangenen Ereignisse, die sicherlich nicht so friedlich abliefen wie das hier beschriebene, wenn man den Fotos glauben darf, die man im Netz findet.

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