Egal, wie die Gegend aussieht, die Kirchendächer glänzend blau und gold. Kaputte Fassaden, Küchen aus dem Katalog. Das Land so weit und so fruchtbar, aber auch so zerstritten. Kinder vor Karriere. Absatzschuhe wie Hochhäuser. Die Alten wollen die Sowjetunion zurück, weil da alles besser war. Ganz unrecht haben sie nicht. Die Jungen wollen Europa, weil da alles besser wird. Ganz unrecht haben auch sie nicht. Nicht jeder Freund Russlands ist ein Separatist, nicht jeder Freund Europas ein Nazi. Es gibt tatsächlich noch Leute, die einfach nur ihr Leben leben. Nationalbewusstsein entwickelt sich rasant, die Legislative kommt nicht mehr mit. Die Exekutive ist hilflos. Die Judikative schleppt sich hinterher. Der Bart Schevschenkos ist das Weinen der Ukraine. Geweint wird oft, mal mit Recht, mal ohne Verstand. Wer war nochmal Lenin, bitte? Regeln braucht der, der Regeln braucht. Wo kein Lichtschalter ist, muss auch keine Lampe hängen. Wie könnte man ein Land teilen, dass sich gar nicht einig ist? Eine Nation, reduziert auf schlechte Nachrichten. Die Krise. Die Russen sind schuld. Nein, die CIA. Oder Europa! Europa? Wir sind Europa! Eine Nation der Zweitverwertung. Muss man eigentlich alles importieren? Es gibt doch eigene Firmen. Kein TÜV, keine Autobahn, keine Kindersitze. Bleifarbe an Klettergerüsten, dafür viel Kinderlachen. Es ist erstaunlich viel umsonst. Erstaunlich viel funktioniert einfach so. Schönheit muss nicht immer sein, oft reicht Nutzwert. Dicke Männer, dünne Frauen – Zeichen von Wohlstand. Aber das ganze Gejammer. Kippen schmeißt man nicht auf den Boden, rauchen ist fast überall nicht gern gesehen. Kulturlandschaften, die welche waren, sind oder noch werden sollen. Geringere Wertschätzung von Leben. Freundlichkeit ist in der Öffentlichkeit nicht angebracht, im persönlichen Umgang umso mehr. Leiden und Aushalten. Zu kleine Wohnungen. Kaum Supermärkte. McDonalds ist feines Essen. Überall nur Prepaid-Handys. Rostig funktioniert. Donbass gegen Lwow. Oben gegen unten. Rechts gegen links. Identifikation durch Abgrenzung nach außen und innen. Goldzähne, Gardinenfädenextensions, Augenbrauen in der Mitte der Stirn, Wangenknochen aus Himmel und Hölle. Irgendwo singt irgendwer immer die Hymne. Wie schön sie klingt, so traurig, so stark. Korruption, die alles irgendwie zusammenhält. Offensichtlich. Verbote nicht erfragen, einfach darüber hinwegsetzen. Recht ohne Verstand. Gewaltbereite Idioten auf allen Seiten mit Stöcken in der Hand. Ständige Suche nach Gründen. Billige Zigaretten sind schlechte Zigaretten. Anderes Frauenbild. Adidas, New Balance, spitze Lederschuhe. Musik wie eine Dusche. Blinklichter zeugen von Gemütlichkeit. Fleisch ist billiger als Obst. Vieles selbstgemacht statt neu gekauft. Stolz und Vorurteil. Die Gedanken sind frei. Verwinkelte Effizienz.
Man kann sich auch mal mit Dingen abfinden. Soviel Misstrauen, unverständlich und auch nicht. Schönes, reiches Land, warum weinst du? Zwei Sprachen im Ohr, zwei Herzen in der Brust. Übermalte Symbolik.
Ich gehe davon aus, dass mir viel davon wieder und wieder auf den nächsten Kilometern begegnen wird, denn dies ist der Anfang.
]]>Der Marsch setzte sich nach dem Singen der ukrainischen Hymne in Bewegung und es vergingen keine fünf Minuten, da brannten die ersten Pyros, wurden die ersten Kanonenböller abgefeuert, Autoalarmanlagen heulten, Hunde bellten, diverse, aber zahlreiche Ordnungskräfte begleiteten das Spektakel eher beiläufig und stimmten gelegentlich in die pro-ukrainischen Gesänge ein. Nicht nur Fußballfans und Ultras gehörten dieser Demonstration an, sondern auch normale Bürger der Stadt.
Im Allgemeinen fand jedoch eine für deutsche Verhältnisse undenkbare Vereinnahmung des Fußballs für politische Zwecke statt. Für derzeitige ukrainische Verhältnisse ist das durchaus verständlich, denn wie bereits in Odessa hat man hier das Gefühl, dass beide Fangruppen gegen einen übergeordneten Gegner ankämpfen, den sie nur gemeinsam besiegen können. Der Nationalismus, der hier durch die Fans gezeigt wird, ist allerdings keine Selbstverständlichkeit, sondern hat sich erst in den letzten Wochen und Monaten entwickelt und wurde direkt, als auch indirekt befeuert durch die aus ukrainischer Sicht andauernde Bedrohung des ehemals großen Bruders. Vor den Ereignissen der letzten Zeit wäre es schier undenkbar gewesen, dass sich ein ukrainischer Ultra für politische oder nationalistische Zwecke in irgendeiner Weise hätte vereinnahmen lassen.
Doch ebenso festzustellen war, dass die gesamte Aktion auf mediale Wirkung abzielte, denn alles machte einen geplanten Eindruck, nahezu mit einer Choreographie versehen, aber das kennt man ja von gut organisierten Fanblocks, nur eben nicht in diesem Ausmaß und über Vereinsgrenzen hinweg.
Als dann das Gerücht aufkam, das ca. 400 pro-russisch gesinnte Fans auf dem Weg in Richtung der Demonstration seien, erfasste die Menge erst eine gespenstische Stille, dann lag plötzlich und merkbar das Gefühl in der Luft, dass „gleich was passiert“. Und so war es denn auch; die Marschroute wurde geändert und die meist vermummten Ultras bewegten sich in Richtung der pro-russischen Fans, um sich schließlich mit ihnen blutige Straßenschlachten zu liefern. Steine flogen, Autos und Scheiben gingen zu Bruch, Blaulicht, viel wurde spekuliert, Menschen mit Kindern brachten sich in Sicherheit.
Die Verbrüderung der Fangruppen hielt diesmal auch während des Spiels an, so wurde zu Beginn jeder Halbzeit gemeinsam die ukrainische Nationalhymne angestimmt und wie bereits in Odessa wurden kanon-artige Chöre mit „Slava Ukraina! Gerojem slava!“ gesungen. Nach dem Spiel wurde der Fanblock der unterlegenen Mannschaft sogar vom anderen Fanblock mittels Applaus verabschiedet.
Hinzu kamen, sowohl vor als auch während des Spiels zahlreiche eindeutige Schmähsprüche in Richtung Wladimir Putin, in denen er mal als aktiv, mal als passiv homosexuell bezeichnet wurde, was aber auch eine Aussage über die Homophobie in den Fankreisen ist, wobei die homophobe Politik des heutigen Russlands solchen Slogans Vorschub leistet. Weiterhin muss ich festellen, dass das Auftreten und die Kleidung einiger Fans ihnen in Deutschland das Attribut “Neonazi” einbringen würde. Ich weiß aber zu noch zu wenig über die ukrainische Fankultur, als dass ich einschätzen kann, warum jemand hier ein Hemd mit Runen trägt. Aber ein Hitlergruß bleibt ein Hitlergruß.
Während des Spiels versuchte die Stadionleitung mehrfach, die Fans vom Singen Putin-feindlicher Gesänge abzuhalten, erst durch Lautsprecherdurchsagen, dann durch das Einspielen von Applaus, der die Gesänge übertönte. Ein Katz-und-Maus-Spiel.
Das Spiel endete letztendlich 2:1 für Kharkov, was ein nicht unverdientes Ergebnis war, da die Gäste lediglich eine echte Torchance hatten, und diese auch noch durch einen fragwürdigen Elfmeter. Die Fangesänge, die regelmäßig in einen anti-russischen Chorus endeten und die Abwesenheit der Hälfte der heimischen Ultras, die wohl noch mit Straßenschlachten beschäftigt waren, zeigten, dass das Spiel für die Fanblöcke eher Nebensache war. Es war vielmehr Anlass zu pro-ukrainischem Gemeinsinn.
Die Themen, die während dieser Demonstration angesprochen wurden, beschränkten sich hauptsächlich auf das Skandieren etablierter Slogans wie „Slava Ukranina, gerojem slava“
Der Redner ruft: „Kharkiv!“, die Menge skandiert „Ukrania!“. Die Nationalhymne wird gesungen, ich stehe aus Respekt still und mir läuft ein leichter Schauer über den Rücken, weil es wirklich eine schöne Hymne ist und ich solche Bekundungen zum eigenen Staat aus Deutschland nicht kenne und dort auch verurteilen würde, aber das ist gehört nicht hierher, es geht hier nicht ums deutsche Verständnis von Nationalbewusstsein. Soweit ich es dann verstehen konnte, waren die Reden nicht von abstrakten politischen Konzepten geprägt, sondern vielmehr wurde immer wieder der soziale Zusammenhalt der gesamten Ukraine auf einfache Art und Weise thematisiert, besonders feststellbar bei den leiseren Redebeiträgen. Die Redner waren Geistliche, einfache Bürger, Blogger – Politiker habe ich keine entdecken können – die gesamte Demonstration machte auf mich den Eindruck einer von den Bürgern selbstorganisierten Veranstaltung. Kinder waren keine zu entdecken, ansonsten gab die Demonstration alles her, was die Gesellschaft zu bieten hat.
Obwohl am Ende alles friedlich ablief, konnte ich eine deutliche Anspannung unter den Demonstranten spüren, was auch an den zahlreich Vermummten gelegen haben mag, die teilweise mit Stahlhelmen und eigenkonstruieren Verteidigungswerkzeugen bewährt waren. Unser Freund Kosko hatte deutlich mehr Respekt vor der Situation, während wir einfach mitten rein gingen und Fotos machten. Aber er ist wohl auch anders geprägt aufgrund der vergangenen Ereignisse, die sicherlich nicht so friedlich abliefen wie das hier beschriebene, wenn man den Fotos glauben darf, die man im Netz findet.