hntrlnd » Brot und Spiele http://www.hntrlnd.de Lenin, Leute, Brot und Spiele Fri, 27 Jun 2014 19:11:05 +0000 de-DE hourly 1 http://wordpress.org/?v=3.8.1 Moskau http://www.hntrlnd.de/?p=1061 http://www.hntrlnd.de/?p=1061#comments Fri, 27 Jun 2014 09:32:35 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=1061 Moskaus Nächte leuchten

Moskaus Nächte leuchten

Vor 26 Jahren ging ich im Stadtteil Jugo-Sapadnaja zur Schule. Die DDR hatte eine Vorzeige-Botschaftsschule gebaut, mit Aula und Sporthalle, alle Kinder von in Moskau lebenden DDR-Bürgern gingen hier hin. Jeden Tag fuhr uns ein Bus aus dem Wohngebiet der Armee-Studenten in Birjulewo hier hin, die Fahrt führte damals eine dreiviertel Stunde durch die breiten Moskauer Straßen, welche leer waren, im Vergleich zum heutigen Verkehrsaufkommen. Ich steige also in die Metro der roten Linie und fahre sie bis zur Endstation im Südwesten. Die Stadt hat sich auch hier komplett verändert. Zwischen den Hochhäusern der Achtziger stehen inzwischen riesige, doppelt so hohe Klötzer.
Vor 25 Jahren standen hier kaum Häuser Wohngebiet der deutsche Botschaft neu verputzt Die Botschaftsschule neu verputzt Zäune und Wachhäuschen

Während man damals zum Hügel sehen konnte und bereits das Botschaftsgelände sah, steht heute ein weiterer Stadtteil dazwischen. Damals waren die fünf Wohnhäuser der Mitarbeiter von Botschaft und Handelsvertretung frei zugänglich. Heute ist das Botschaftsgelände mit einem Zaun abgesperrt. Da ich an einem Sonntag vorbeigehe, werde ich an den Wärterhäuschen abgewiesen, mein deutscher Pass bringt mich nicht weiter. Mir wird eine Telefonnummer gegeben, unter welcher ich einen Passageschein beantragen kann, aber nur Wochentags. Alle Häuser sind frisch und nach deutschem Stil verputzt. An dem ebenfalls durch den Putz kaum wiederzuerkennenden Schulgebäude prangt neben langweiligem Logo die Zeile „Deutsche Schule in Moskau“. Das vereinte Deutschland hat also das DDR-Gelände übernommen und sich mit Zäunen und Wärterhäuschen ein abgekapseltes Ghetto gebaut, welches einen Austausch mit dem Moskauer Stadtleben erst außerhalb des Zauns ermöglicht. Hier kann ich weder Fotos machen, noch mich mit Botschaftsmitarbeitern und Familien unterhalten.

Das Wohnheim in Birjulewo

Das Wohnheim in Birjulewo

Ich rufe also am Montag an. Mir wird mitgeteilt, dass die zuständige Mitarbeiterin in einer Konferenz ist, ich solle in einer halben Stunde nochmal anrufen. Nach dieser werden meine Anrufe mit einem Dauerklingeln beantwortet, niemand nimmt ab. Ich versuche über eine Stunde lang jemanden an den Hörer zu bekommen, ohne Erfolg. Über den Tag versuche ich es noch einige Male, keine Rückmeldung. Also bleiben nur ein paar Fotos von Zäunen. Ich hätte gern Jemanden zu den Entwicklungen in den letzten 26 Jahren befragt, aber dieser Moskau-Aufenthalt ist zu kurz dafür und die Kommunikationsbereitschaft eindeutig zu schlecht.
Da, wo die Geschichte von "Der Meister und Margharita" beginnt perfekter Hintergrund Pjotr I und krasnui oktjabr Springbrunnen und Holzterrasse und entspannen

Stattdessen lassen wir uns vom neuen Moskau beeindrucken. Wir machen mit Tatjana, die wir in Kirgistan kennengelernt haben, einen Abendspaziergang. Die Stadt stampft sich immer wieder und ständig neu aus dem Boden. Sie schraubt weitere Metrolinien drunter und sie wächst weiter in die Höhe. Der Eindruck, den die explosionsartige Entwicklung macht, ist überwältigend. Dabei sind die Moskwitschs unhöflich und aggressiv, wie sie es schon immer waren. Beim Ticketkauf in der Metro sollte man das Genuschel nicht missverstehen, bei Nachfrage wird man angeschrien. Es scheint unter Verkäuferinnen ein Wettbewerb zu bestehen, in welchem die gewinnt, die möglichst teilnahmslos und mit abwesendem, schon wieder aufs Smartphone starrendem Blick das Wechselgeld in den Verkaufsschlitz wirft. Beim scheinbar abgenötigten Satz nach dem Einkauf im Supermarkt „beehren Sie uns bald wieder“ scheint es auch darum zu gehen, einen möglichst ironisierenden Tonfall zu finden.

Weine aus der Ukraine, als Krimwein deklariert

Weine aus der Ukraine, als Krimwein deklariert

Die „Krasnui Oktjabr“-Schokoladenfabrik hat die Produktion im Stadtzentrum eingestellt. Die Fabrikhallen sind ein perfekt und mit viel Geld saniertes Kunst- und Kulturzentrum geworden. Nach den Luxuskarossen zu urteilen, geht es inzwischen weniger um Kunst, sondern um exquisite Lofts. Am wichtigsten ist das Geld. Das sollte man haben und zwar ausreichend, um in dieser Stadt blind einen Kafee zu kaufen. Der könnte nämlich Scheisse schmecken und fünf Euro kosten. All das ändert nichts an der so nicht erwarteten Freiheit und Ungezwungenheit des Moskauer Nachtlebens. Im Zentrum sind moderne und schöne Parks entstanden, die Leute tummeln sich hier, fahren Rad, Skateboard, Inlines, machen Selfies, starren auf Smarphones und Tablets, surfen auch ohne Telefonkarte im Netz, denn es gibt in fast allen Parks, genauso wie in der Metro freies W-Lan. Alles und Jeder ist technisiert.
Arbat aka. Touriabzocke Das neue Moskau Hilfe für den Donbass Lomonossow Stalinbau - eine der sieben Schwestern

An Holzterrassen, auf denen man rumliegen kann, sind unter den Stufen frei zugängliche Steckdosen angebaut. Davor ein Springbrunnen. Er lässt die Wassersäulen tanzen. Nachts kommen noch wechselnde Farben dazu. Moskau ist wohl nicht mehr nur die teuerste, sondern auch die reichste Stadt der Welt. Vielleicht hat sie gerade den Moment der Aufbruchsstimmung, in welchem das Kreative und Urbane noch kurz atmen darf, bevor es endgültig vom Reichtum eingenommen und zerschlagen wird. Vielleicht kann sie sich aber auch ihre kostenlosen Wohlfühlnischen erhalten. Die Infrastruktur scheint perfekt. Die Steuern sind geringer. Das Leben hier ist irre teuer und der Durchschnittslohn ist unter aller Sau. Die Armut versteckt sich in den Schlafstädten am Rand der Stadt. Aber auch diese sehen weitaus sauberer und wohnlicher aus, als ich sie in Erinnerung habe.

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Mit dem Trolleybus zum Osh-Basar http://www.hntrlnd.de/?p=961 http://www.hntrlnd.de/?p=961#comments Sun, 08 Jun 2014 05:28:52 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=961 Kirschen für ne Mark

Kirschen für ne Mark

Steigst du in einen Trolleybus ein, dann merk dir die Station, die als nächstes kommt, um auf dem Rückweg genügend Zeit zu haben, dich durch die stehenden Fahrgäste zum Fahrer zu zwängen und rechtzeitig passendes Kleingeld bereitzuhalten, bevor du aussteigst. In meinem Fall waren das acht kirgisische Som, also ca. zehn Cent und die Haltestelle am Sportplatz auf der linken Fahrbahnseite, kurz nach der Autowerkstatt, wo die Teppiche zum Trocknen draußen hängen.

Ich bin zum Osh-Basar in Bischkek gefahren mit dem Trolleybus Nr. 4, um was zum Abendessen zu besorgen, einmal quer durch die Stadt. Feste Abfahrtszeiten Fehlanzeige, die Busse kommen in leicht unregelmäßigen Intervallen, die schlicht vom Verkehr abhängen. Am Rand des Basars ein großer Topf auf einem alten Kinderwagengestell, in dem Rindernieren, -herzen und -lebern mit Kartoffeln und Zwiebeln vor sich hin köcheln. Ich probiere, eine Portion kostet 30 Som, ich bestelle kurz vor Ladenschluss für 100. Die Verkäuferin schaut mich erschrocken an und fragt: „Sto?“ Ich sage: „Da, sto! Otschen fkusna!“ („Ja, 100! Sehr lecker!“) Sie hätte wohl nicht erwartet, dass ich Arme-Leute-Essen bestelle, ich bin schließlich Inostranez, Ausländer. Sie flüstert etwas zu ihrer Topfnachbarin, die Pelmeni verkauft, auch diese schaut erstaunt. Aber ich bekomme mein Essen in einer prallen, nach Innereien duftenden Plastiktüte.

Innereien mit Kartoffeln

Innereien mit Kartoffeln

Mit Kopfhörern, Sonnenbrille und Mütze vor den Ansprachen der Verkäuferinnen in der Gemüsehalle versiegelt, entscheide ich mich für die junge Mutter, die Salate verkauft. Die Mütze habe ich für zwei Euro von einem alten Opa gekauft, ich musste das größte Modell nehmen und selbst das passt knapp.

Der Autor mit seiner neuen Mütze

Der Autor mit seiner neuen Mütze

Ich probiere alles durch und nehme den scharfen Möhrensalat, den mit Möhren und Soja und den mit leckeren Gemüse, was ich nicht identifizieren und die Erklärung dazu nicht übersetzen kann. Egal, schmeckt lecker, mit viel Essig. Ich mit meiner gerade überstandenen Gastroösophagitis sollte das eigentlich nicht essen, aber wer weiß, wann ich nochmal dazu komme.

Die junge Salatmutti

Die junge Salatmutti

Noch zwei Weißbrote für 25 Som, Schnaps haben wir noch zuhause und ich sprinte mit meinen Tüten zurück in die Moskovskaja, dort fährt die Nummer Vier zurück nach hause. Bevor das Fleisch kalt wird. Der Stand mit Zeug In der Trockenfruchtecke Warten auf Godot Weinender Bettler
Im Bus mustern mich zahlreiche Blicke aufgrund der Gerüche aus meiner Tasche. Diese scheinen nicht zu meinem fremdländischen Aussehen zu passen. Alten Frauen wird selbstverständlich ein Sitzplatz freigemacht, neben mir will nur ein alter, dicker Mann sitzen, der sich nach drei Stationen lieber woanders hinsetzt. Als ich aussteige und 20 Som Fahrpreis an den Fahrer reiche, werde ich gefragt: „Adin?“ („Einer?“) Ich schaue mich um und frage: „Tui vidjesch dwa ljudei?“ („Sehen sie zwei Leute?“) Ich bin der letzte Fahrgast, der Busfahrer ist ob meiner Frechheit erbost. Habe mich wohl nicht an eine mir unbekannte Fingerzeig- oder Nennregel gehalten, was die Bezahlung der Fahrt betrifft. Es gibt Anschiss, den ich nicht verstehe, ich bedanke mich so freundlich es nur geht für den Hinweis und steige aus. Gut, dass ich mir den Sportplatz gemerkt habe; schlecht, dass ich vergessen habe, dass noch eine Station zwischen dieser und meiner liegt, so muss ich nun laufen. Schnell in eine Marschrutnaja springen, fällt aus, ich habe im Trolleybus überhebliche 10 Som Trinkgeld gegeben und nun nicht mehr genug Geld, also muss ich laufen. Neben mit her laufen die Hunde der Nachbarschaft, denn die Innereien aus der Tüte riechen einfach zu lecker. Ich werfe ein paar Streifen Möhren hin, das finden sie doof und bellen. Schnell nach Hause, an den Hanfpflanzen am Wegesrand vorbei. Bevor das Fleisch kalt wird.

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Georgien- Stakkato http://www.hntrlnd.de/?p=819 http://www.hntrlnd.de/?p=819#comments Fri, 16 May 2014 19:38:48 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=819 DSC02498Deutsche Rentner schälen sich in Touristenuniform aus dem Reisebus. Der Musikant beginnt zu spielen, der Reiseleiter animiert zum Tanzen, jeder so, wie er noch kann, verordnete Fröhlichkeit zu Seemannsliedern. Schlange vorm Souvenierstand, Omas betteln. „Urig hier! Wie alt die Kirche wohl sein mag? Ob es hier auch Geckos gibt?“ Der Reiseleiter versteht die Frage nicht, der Fahrer wendet schon mal den Bus, das Panorama entzückt nur am Rande und verschwindet im Zeitplan.

Tbilisi von ganz weit oben

Tbilisi von ganz weit oben

In der Billardbar muss die russischsprachige Mitarbeiterin erst aus dem Keller geholt werden, eine englischsprachige war nicht zu finden. Beim Imbiss helfen nur Hände und Füße, Nicken und Zucken, wir sprechen kein Georgisch, der Koch nichts anderes. Einer mag das dumm finden, ein anderer konsequent. Vor der Bar: Treffen der Halbstarken. Tragen Sonnenbrillen, wenn sie mit Mädchen reden, spucken beim Rauchen, hochgestellter Kragen, Rasierklingen zwischen Armen und Beinen, Sportauspuff oder wenigstens ein Loch im Schalldämpfer, schön durchdrehen lassen, tiefe Stimme, nur in der Erregung nicht. Die Sneakers hat Mutti bezahlt.
Die knöchrigen Hände alter Frauen, Gesichter vermummt aus Scham, drei Hosen übereinander, recken sich bettelnd und zitternd vor Kirchen und teuren Läden zu mir. Ein Schild am Becher beschreibt ihr Schicksal. Bitten wie Gebete. Eine Mutter fleht mit ihrer Tochter auf dem Arm, das Kind ahmt die Mutter nach, ich werde traurig, schaue weg, gebe nichts, wie so oft, wie immer. Eine bucklige, stumme Behinderte kauert in immer derselben Stellung an der Hauswand, ein schwarzer Fleck, wo ihre Haare sind. Wie kommt sie dahin, wie kommt sie wieder weg? Ich vermute ein Geschäft dahinter. Der Hund eines Bettlers hat einen Trinker gebissen, schlagen, treten, schreien, Kleingeld fliegt, der Bettler kann den Hund nicht beschützen, aber er versucht es, er hat sonst niemanden.
Wachdienst, Sicherheitspolizei, Militärpolizei, in Ladas, in Geldtransportern, auf Klapprädern – halbseidene, ununterscheidbare Uniformen; inflationär-unverständlicher Gebrauch von Blaulicht, wenn das nicht hilft – Lautsprecherdurchsage aus dem Auto: „Weg da! Platz da!“
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Der Fußweg gehört den Straßenhändlern, jeder verkauft, was er hat und kann. Taschentücher, Reisig zu Besen gebunden, Tomaten, Gurken, Bananen, Zigaretten, Fliesen, Ikonen, Brot, Second Hand. In Läden arbeitet entweder keiner oder gleich fünf Leute mit nebulösem Tätigkeitsbereich. Viele haben keine Arbeit, alle ein Handy. Der schwere, schwarze Rock der Frau, die eigentlich nur aus Arsch und Oberlippenbart besteht, lässt keinen Blick auf das Darunter zu, wenn sie auf einem kleinen Hocker auf dem Fußweg breitbeinig und lautstark ihre Waren anpreist. Schöne Waren feil, schöne Waren feil!
Reiche Menschen dick und blass, so auch ihre Kinder. Viel PS, viel AMG, OPC, M, TT, viel YSL; schöne Frauen Arm in Arm mit ihrem dicken Mann, hässliche ein Stück dahinter.  McDonalds-Tüten als Statussymbol. Arme Menschen gebräunt, von Geburt an oder durch Arbeit im Freien. Karrenschieber, Bauern, Tagelöhner, Kartenspieler, Straßenfeger, Betrunkene schreien liegend im Dreck, verwirrte Gläubige spucken auf Mädchen mit kurzem Rock. Die „Mitte“ sieht zu, dass sie vom Wahnsinn nicht verschlungen wird. Beschiss an jeder Ecke, Touristen kommen eh nicht wieder, geraucht wird überall und ab 12 Jahren, feste Preise Fehlanzeige, alles rausholen was geht.
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Zusammenbruch, der Chaos schaffte und eine selbstbestimmte Gesellschaft formt, die fast jedem Versuch staatlicher Regulierung widersteht, Normen müssen noch entstehen. Vielleicht sehe ich sie nur nicht. Oder sind sie überflüssig? Hupen statt Ampeln, Drängeln statt Regeln, Verbrennen statt recyceln, Gebell statt Alarmanlagen, Fußgängerüberwege und Parkordnung als täglicher Sarkasmus, Bekreuzigen vorm Straßenwechsel. Märkte in Kirchen, Beete in Ruinen, Wohnungen in Fabriken. Dazwischen glänzender Neubau. Oder nichts. Jeder denkt an sich, ohne dem anderen böses zu wollen.
Eine Regierung, die nicht verhindern kann, dass die Grenzen zu Russland mal wieder ein paar Dörfer weit zu ihren Ungunsten verschoben wurden – keine Landkarte kommt da noch mit. Beschiss beim European Song Contest. Ossetien und Abchasien sind schon weg, ein vergessener Krieg, viel Leid wird ignoriert, was bringt es auch?

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Metallist vs. Dnipro http://www.hntrlnd.de/?p=560 http://www.hntrlnd.de/?p=560#comments Mon, 28 Apr 2014 08:15:34 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=560 015Gestern wurden wir Zeuge einer im ukrainischen Fußball nicht neuen, aber ungewöhnlichen Situation: Die ansonsten verfeindeten Ultra-Gruppen der Erstliga-Vereine Metallist Kharkov und Dnipro Dnipropetrovsk trafen sich anlässlich des Duells beider Mannschaften zu einem gemeinsamen und friedlichen Marsch vom Platz der Verfassung zum Stadion in Kharkov.

009Der Marsch setzte sich nach dem Singen der ukrainischen Hymne in Bewegung und es vergingen keine fünf Minuten, da brannten die ersten Pyros, wurden die ersten Kanonenböller abgefeuert, Autoalarmanlagen heulten, Hunde bellten, diverse, aber zahlreiche Ordnungskräfte begleiteten das Spektakel eher beiläufig und stimmten gelegentlich in die pro-ukrainischen Gesänge ein. Nicht nur Fußballfans und Ultras gehörten dieser Demonstration an, sondern auch normale Bürger der Stadt.

007Im Allgemeinen fand jedoch eine für deutsche Verhältnisse undenkbare Vereinnahmung des Fußballs für politische Zwecke statt. Für derzeitige ukrainische Verhältnisse ist das durchaus verständlich, denn wie bereits in Odessa hat man hier das Gefühl, dass beide Fangruppen gegen einen übergeordneten Gegner ankämpfen, den sie nur gemeinsam besiegen können. Der Nationalismus, der hier durch die Fans gezeigt wird, ist allerdings keine Selbstverständlichkeit, sondern hat sich erst in den letzten Wochen und Monaten entwickelt und wurde direkt, als auch indirekt befeuert durch die aus ukrainischer Sicht andauernde Bedrohung des ehemals großen Bruders. Vor den Ereignissen der letzten Zeit wäre es schier undenkbar gewesen, dass sich ein ukrainischer Ultra für politische oder nationalistische Zwecke in irgendeiner Weise hätte vereinnahmen lassen.

013Doch ebenso festzustellen war, dass die gesamte Aktion auf mediale Wirkung abzielte, denn alles machte einen geplanten Eindruck, nahezu mit einer Choreographie versehen, aber das kennt man ja von gut organisierten Fanblocks, nur eben nicht in diesem Ausmaß und über Vereinsgrenzen hinweg.

016Als dann das Gerücht aufkam, das ca. 400 pro-russisch gesinnte Fans auf dem Weg in Richtung der Demonstration seien, erfasste die Menge erst eine gespenstische Stille, dann lag plötzlich und merkbar das Gefühl in der Luft, dass „gleich was passiert“. Und so war es denn auch; die Marschroute wurde geändert und die meist vermummten Ultras bewegten sich in Richtung der pro-russischen Fans, um sich schließlich mit ihnen blutige Straßenschlachten zu liefern. Steine flogen, Autos und Scheiben gingen zu Bruch, Blaulicht, viel wurde spekuliert, Menschen mit Kindern brachten sich in Sicherheit.

017Die Verbrüderung der Fangruppen hielt diesmal auch während des Spiels an, so wurde zu Beginn jeder Halbzeit gemeinsam die ukrainische Nationalhymne angestimmt und wie bereits in Odessa wurden kanon-artige Chöre mit „Slava Ukraina! Gerojem slava!“ gesungen. Nach dem Spiel wurde der Fanblock der unterlegenen Mannschaft sogar vom anderen Fanblock mittels Applaus verabschiedet.

Hinzu kamen, sowohl vor als auch während des Spiels zahlreiche eindeutige Schmähsprüche in Richtung Wladimir Putin, in denen er mal als aktiv, mal als passiv homosexuell bezeichnet wurde, was aber auch eine Aussage über die Homophobie in den Fankreisen ist, wobei die homophobe Politik des heutigen Russlands solchen Slogans Vorschub leistet. Weiterhin muss ich festellen, dass das Auftreten und die Kleidung einiger Fans ihnen in Deutschland das Attribut “Neonazi” einbringen würde. Ich weiß aber zu noch zu wenig über die ukrainische Fankultur, als dass ich einschätzen kann, warum jemand hier ein Hemd mit Runen trägt. Aber ein Hitlergruß bleibt ein Hitlergruß.

001 002 003 005 006 007 008 009 010 011 012 013 013a 013b 014 015 016 016a 017 017a 018 019 020

Während des Spiels versuchte die Stadionleitung mehrfach, die Fans vom Singen Putin-feindlicher Gesänge abzuhalten, erst durch Lautsprecherdurchsagen, dann durch das Einspielen von Applaus, der die Gesänge übertönte. Ein Katz-und-Maus-Spiel.

017aDas Spiel endete letztendlich 2:1 für Kharkov, was ein nicht unverdientes Ergebnis war, da die Gäste lediglich eine echte Torchance hatten, und diese auch noch durch einen fragwürdigen Elfmeter. Die Fangesänge, die regelmäßig in einen anti-russischen Chorus endeten und die Abwesenheit der Hälfte der heimischen Ultras, die wohl noch mit Straßenschlachten beschäftigt waren, zeigten, dass das Spiel für die Fanblöcke eher Nebensache war. Es war vielmehr Anlass zu pro-ukrainischem Gemeinsinn.

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Eine Nacht in sieben Sätzen http://www.hntrlnd.de/?p=548 http://www.hntrlnd.de/?p=548#comments Sun, 27 Apr 2014 11:07:08 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=548 gestern_nacht_1Die gestrige Nacht war ereignis- und lehrreich, aber es gibt schon zu viele Partygeschichten, als dass hier Platz für lange Abhandlungen wäre, deswegen nun der Versuch, die Erlebnisse auf sieben Sätze zusammenzuordnen:

1. Die Bar, in der wir mit unseren neuen ukrainischen Freunden Poker spielten, hatte ihre besten Zeiten wohl knapp nach dem Zusammenbruch der UdSSR und glänzte durch – nein, da glänzte nichts mehr außer der Stirn des fetten Inhabers, der uns irgendwann rausschmiss, weil wir nicht genügend tranken – schade eigentlich, denn die Stimmung und das Ambiente waren so sympathisch verbraucht.

2. In einem Laden namens „Schweinekeller“ (soweit ich das korrekt übersetzt habe) gab es einen Kicker-Tisch, aber kein Bier, stattdessen nahezu ungenießbare White Russians, für die der Barkeeper ein Handbuch und zehn Minuten brauchte – also lieber doch woanders hin.

gestern_nacht_23. Der 24h-Irish-Pub bot auf einer englischen Karte tatsächlich Faggott Sausages an, ich habe sie nicht probiert, denn wir wollten ja eigentlich nur kurz Boxen gucken, aber leider musste ich mich vor der Tür just im Moment des Niederschlags mit einer erstaunlich gut gebauten und erstaunlich betrunkenen Frau über die russische Außenpolitik der letzten Wochen unterhalten.

4. Der „Underground“-Club namens „Schifjiot“ (Bauch), im Keller eines abrissreifen Hauses gelegen, besaß zwei Floors, einer, auf dem sich ein 17-jähriger DJ mit House-CDs vor seinen Kumpels ausprobieren durfte, ein weiterer, größerer Floor, auf dem ein alter Mann mit Zopf und zu engem T-Shirt jeden Break seiner Hardtrance-Goa-Deppentechno-130bpm-Syncbutton-Mische mit euphorischen Grimassen und Häuslebauer-Händefuchteln vor den anwesenden, anscheinend Hüpfburg-erprobten Kids kommentierte.

5. Zum Glück waren wir wenigstens nicht mehr in der „Cherry Hall“, denn dort wurde tags zuvor eine Nissan Juke-Promotionparty abgehalten und das gilt es in jedem Land der Welt zu meiden.

6. Der Taxifahrer, der uns nach Hause brachte, war eigentlich Lackierer und fuhr nur nebenbei Taxi, um sich eine Knarre kaufen zu können, mit der er dann die verdammten Russen erschießen könne, die ihm die Krim geklaut hatten.

gestern_nacht_47. Nach zwei selbstgebrauten Samagon, einem großen Jägermeister, einer harten Rum-Cola und einer noch härteren Wodka-Cola liege ich im Bett, strecke die Füße zum Bremsen raus und denke mir: „War lustig, machen wir nicht nochmal.“

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Tscherno vs. Dnepr http://www.hntrlnd.de/?p=369 http://www.hntrlnd.de/?p=369#comments Mon, 21 Apr 2014 07:46:28 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=369 mal wieder anstellen

mal wieder anstellen

Jens war noch nie(!) in seinem Leben bei einem Fußballspiel und ich freue mich sehr, dass ich dabei bin, als er ausgerechnet in der Ukrainie entjungfert wird, was das Ballspiel betrifft. Nach zwei Bier fängt er an, mitzuschreien. Ich habe mir zum ersten Mal einen Fußballschal gekauft; für vier Euro konnte ich nicht widerstehen.002Heute spielt der fünfte der ersten ukrainischen Liga gegen den zweiten – hier mehr Infos. Zwei recht wohlhabende Vereine aus zwei recht wohlhabenden Städten. Während Dnipro wohl das Borussia Dortmund der Ukraine ist und noch um die Meisterschaft gegen den übermächtigen Gegner aus Donezk kämpft, hat Tschernomorez in den letzten Jahrzehnten eine wechselvolle Geschichte zwischen Uefa-Pokal, Abstieg, Aufstieg und Pokalsieg hinter sich. Das Logo ist ein Anker – als Mannschaft der größten ukrainischen Hafenstadt schon fast absehbar.

005Während die Hausherren eher „durch den Kampf ins Spiel finden“, versucht Dnepr mit Kurzpassspiel zum Tor zu gelangen. Was auch gelingt – aber Abseits. Zwei Minuten später Latte. Dann Tscherno mit einem durchaus geschickt gekonterten Flügelangriff – Tor! Kurz darauf bekommt einer von Tscherno einen Schuh aber ordentlich ins Gesicht und bleibt liegen (zurecht), die eigene Mannschaft spielt den Ball ins Aus für eine Behandlungspause. Was Dnepro nicht davon abhält, einfach weiterzuspielen und in der Verwirrung das Gegentor zu machen. Großes Gerangel, die beiden Trainer schubsen sich gegenseitig und beschimpfen sich, der Schiri fragt den Assistenten – kein Tor! Das Stadion bebt. In der zweiten Halbzeit versucht Dnepro alles, aber starke 15 Minuten reichen nicht und zum Schluss donnert Tscherno den Ball einfach nur noch nach vorn. Acht gelbe Karten später geht Tscherno mit drei Punkten verdient nach Hause. Soviel zum Spiel.

007Das Stadion in Odessa wurde ab 2008 für 100 Millionen Euro komplett neu gebaut und war als Ersatzspielstätte für die EM 2012 vorgesehen. Bezahlt wurde alles angeblich vom Eigentümer des Vereins. Obwohl das Stadion direkt am Schwarzen Meer steht und Odessa auch sonst viel zu bieten hat, haben bis auf einen einzigen alle ausländischen Spieler ihre Verträge bei Tscherno mit Beginn der „Ereignisse“ im Land aufgelöst und sind einfach nach Hause gegangen. Dieser eine Verbliebene macht dann auch das einzige Tor – welch Wink des Schicksals.

Auch wenn beim Fußball überall auf der Welt elf gegen elf 90 Minuten den Ball treten, so ist das, was sich hier auf den Rängen abspielt, nicht ganz mit dem zu vergleichen, was sich in Deutschland als Fußballkultur darstellt.003In erster Linie ist erstaunlich, dass beide Fanblöcke vorm Spiel Einigkeit demonstrieren, indem sie gemeinsam und im Kanon „Slava Ukraine – Gerojem Slava!“ (Slava = Ruhm, Geroi = Held) anstimmen. Auch scheint der Fußball hier sehr mit einer politischen Aussage verbunden, das zeigen die zahlreichen ukrainischen Landesfahnen. Zudem wird vorm Spiel von allen Anwesenden die ukrainische Nationalhymne gesungen, aus voller Kehle, mit wehenden Fahnen und Hand auf der Brust. Verständlich bei einer Nation mit Minderwertigkeitskomplex. In Deutschland wäre das alles undenkbar – da müsste wohl erst unsere staatliche Einheit akut bedroht sein, damit keiner mehr von den „Scheiß-Bayern“ spricht und St.Pauli- und Hansa-Fangruppen nicht aufeinander einprügeln wollen. Diese Verbrüderung geht natürlich nur bis zum Anpfiff. Aber auch sonst ist keinerlei Aggressivität zwischen den Spielern und Fans zu spüren, so als ob sie einen Nichtangriffspakt außerhalb des Rasens geschlossen hätten, weil sie gegen einen übermächtigen Gegner spielen. Und das tun sie ja augenscheinlich auch.
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Notiz zum Schluss: Nach der Halbzeitpause ist das Stadion doppelt so voll wie vorher, da man nun kostenlos reinkommt. Auf dem Heinweg im Supermarkt treffen sich zwei Fans der Heimmannschaft und begrüßen sich augenzwinkernd mit “Slava Rossia!”. Bei aller Problematik der “Ereignisse” scheinen sich die Menschen noch ein Stück Witz erhalten zu haben. Humor ist, wenn man trotzdem lacht.

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