hntrlnd » Wirtschaft http://www.hntrlnd.de Lenin, Leute, Brot und Spiele Fri, 27 Jun 2014 19:11:05 +0000 de-DE hourly 1 http://wordpress.org/?v=3.8.1 Akmal, Taschkent, Usbekistan http://www.hntrlnd.de/?p=907 http://www.hntrlnd.de/?p=907#comments Thu, 29 May 2014 12:56:04 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=907 Das Atlas-Hotel wurde vor zwei Monaten eröffnet

Das Atlas-Hotel wurde vor zwei Monaten eröffnet

Akmal ist Anwalt und hat das Atlas-Hotel mitten in Taschkent bauen lassen, in welchem wir fünf Tage übernachten. Es ist sein Design, das ist ihm wichtig zu erwähnen. Die großen etablierten Hotels sind viel teurer, man kann aber den gleichen Komfort bieten zu geringeren Preisen. Natürlich möchte er weiter über die Vorteile seines wirklich gelungenen Hotels erzählen, aber mich interessieren ja meist andere Fragen als jene, die verkaufsfördernde Antworten provozieren. So viel sei gesagt, das Hotel ist durchdacht, unser Zimmer ist fast unökonomisch groß, der Komplex hat zwei Stockwerke und bildet kreisförmig einen schattigen Hinterhof, den man bereits Ende Mai unbedingt in dieser Stadt braucht. Alte Türen und Fenster wurden saniert und erhalten. Hier hat sich jemand Gedanken gemacht.

Akmal - erfolgreich und stolz auf sein Land

Akmal – erfolgreich und stolz auf sein Land

Ich frage ihn nach seiner Meinung zu Usbekistan und wir kommen ins Gerede. Im folgenden seine, wie ich denke, patriotische, aber teilweise reflektierte Meinung: Das Land hatte, gegenüber anderen Staaten in Zentralasien einige Vorteile. Es musste nach dem Zusammenbruch der UdSSR keine Schocktherapie durchmachen, wie zum Beispiel Kasachstan. Durch die recht willkürliche Grenzziehung und Bildung der Sowjetrepubliken wurde Usbekistan, im Gegensatz zu seinen Nachbarn, auch hinsichtlich der Ressourcen bevorteilt. Es gibt Wasser und blühende Landschaften östlich von Taschkent, die einen Anbau von Nahrungsmitteln ermöglichen und Usbekistan zum Selbstversorger zu machen. Die Anrainerstaaten haben nicht diese Grundlagen.

Amir Temur -  Weltenbezwinger und Nationalheld

Amir Temur – Weltenbezwinger und Nationalheld

Dies war vor dem 20. Jahrhundert nicht so relevant wie heute, denn erst die sozialistische Grenzziehung und der Zusammenbruch der UdSSR machten souveräne Staaten aus den Volksgruppen, die vorher recht lose Gesellschaftssysteme in Zentralasien bildeten. Usbekistan hat also schon aufgrund seiner Lage die Möglichkeit eine stabile, eigenständige Ökonomie zu entwickeln. Es gibt seit Jahrzehnten wirtschaftliche Kooperationen mit Südkorea, China kommt als wichtiger Partner nun dazu, interessiert am Gas und ausgestattet mit der Technologie, die es verarbeitet und zur Verfügung stellt. Anders als einige Länder in Afrika ist Usbekistan dabei ein gleichberechtigter Partner, denn es bietet die Ressourcen und kauft Technologie. Die Regierung achtet stark auf die wirtschaftliche Souveränität des Landes.

Schmiedearbeiten neben dem Bazar

Schmiedearbeiten neben dem Bazar

Anders als in Kasachstan wird hier die Ausbeutung der Ressourcen nicht an Investoren verkauft, sondern sie werden beteiligt. Ein Beispiel: Die Straßen Taschkents sind voller Daewoos, genauer gesagt „Uz-Daewoo“, ein Südkoreanisch-Usbekisches Joint Venture, dessen usbekische Fabriken sich „Uzawtosawod“ nennen. Seit 2008, mit dem Aufkauf von Daewoo durch General Motors nennt sich die Marke „GM Uzbekistan“. Anstatt des Daewoo-Logos klebt nun das der GM-Tochtermarke Chevrolet an der Motorhaube. Der Plan von Uzawtosawod ist es, die gesamte Teileproduktion in Usbekistan zu ermöglichen – ohne lange Transportwege könnten günstige Autos für ganz Zentralasien produziert werden.

Auf dem Chorsu Bazar gib es alles in rauhen Mengen und günstig

Auf dem Chorsu Bazar gib es alles in rauhen Mengen und günstig

Durch den Reichtum des Landes ist auch die Steuerpolitik extrem moderat. Der höchste Einkommenssteuersatz liegt unter 20 Prozent, eine Mehrwertsteuer im europäischen Sinne gibt es eigentlich nicht. Man findet in dem Land kaum Geldautomaten, Usbekistan ist dabei, seine Währung unabhängig vom weltweiten Geldsystem zu etablieren. Nachdem sich der Dollar als zweite und stabilere Währung im Handel (zum Beispiel beim Autokauf) durchgesetzt hatte, wurde er nun für den inländischen Handel verboten. Dollars oder Euro in der Tasche sind strafbar. Der usbekische SOM hat eine hohe Inflationsrate, für einen Euro gibt es heute 3200 SOM, im nächsten Monat wird es noch mehr sein. Man rennt also mit riesigen Bündeln von Geldscheinen durch die Straßen, der größte Schein hat einen Wert von 5000 SOM, nicht mal zwei Euro, und wird seit dem letzten Jahr gedruckt.

Feierabend auf dem Basar - das eingenommene Geld ist wenig wert und füllt Tüten

Feierabend auf dem Basar – das eingenommene Geld ist wenig wert und füllt Tüten

Akmals Meinung zur Inflation ist auch patriotisch und er hat eine recht lässige Position. Ja, es gibt eine hohe Inflationsrate und die Regierung versucht alles, um sie so gering wie möglich zu halten, allerdings stellt sich beim SOM ohne weltweite Verkettung das dar, was passiert, eine Entwertung des Geldes. Abgesehen von den vielen Geldscheinen und Nullen beeinflusst die Inflation aber nicht die usbekische Gesellschaft. Seiner Meinung nach hat die Bankenkrise Usbekistans Alltag nicht betroffen, weil er eben autark funktioniert. Eine Diskussion über den finanziellen Protektionismus, an welchem sich das autoritäre Regime gut darstellen lässt, brauche ich mit ihm wohl nicht anzufangen. Mir sitzt ein erfolgreicher Geschäftsmann gegenüber, der seine Sicht mitteilt und er hat wenig zu beklagen. Er erzählt von einem Studienfreund, der nach Europa gegangen ist und immer noch eine Wohnung mietet, also in Europa nicht das erfolgreiche Business aufgebaut hat, wie er selbst in der gleichen Zeit in Taschkent.

Transporter

Transporter

Der russisch-amerikanische Konflikt verursacht seiner Meinung nach einen negativen Einfluss auf die usbekische Gesellschaft. Beide Seiten seien an einem destabilisierten Zentralasien interessiert um es militärisch und strategisch für sich vereinnahmen zu können. Auch bei den kirgisischen Übergriffen auf usbekische Siedler an der Grenze hätten die Großmächte keinen friedenssichernden Einfluss gesucht. Es sei der rücksichtsvollen usbekischen Politik zu verdanken, dass der Konflikt nicht weiter eskaliert ist. Obwohl die starke usbekische Armee ohne Probleme innerhalb weniger Tage Kirgistan einnehmen könnte, hat man sich zurückgehalten und Kompromisse geschlossen.

Müllverbrennungsanlage

Müllverbrennungsanlage

Spätestens an dieser Stelle ist es für mich ersichtlich, dass Akmal durchaus meinungsbildend argumentieren möchte und seine weiteren Ausführungen, die Usbekistan als den letzten vernünftig denkenden Rückhalt in einer dualistischen Welt darstellen, sind mir ein wenig zu verschwörungstheoretisch.
Meine Impressionen aus Taschkent bezeugen aber auf jeden Fall ein anderes Bild, als es die verängstigten europäischen Vorurteile vermitteln wollen. Die kulturellen Wurzeln und die Altstadt wurden in den sechziger Jahren des letzte Jahrhunderts durch ein Erdbeben zerstört. Der sowjetisch gelenkte Wiederaufbau prägt bis heute das Stadtbild, große Straßen, weite Plätze, siehe Kharkiv.

Sozialistische Großraumarchitektur - davor staunender Dirk

Sozialistische Großraumarchitektur – davor staunender Dirk

Hier lebt auch eine bereits im Stalinismus forcierte, weil hierher gelenkte multiethnische Gemeinschaft. Viele Koreaner sind im Koreakrieg hierher „geflüchtet worden“. Es gibt für alle Arbeit, viele Stunden, wenig Einkommen, aber doch ausreichend. Geschäftsideen werden schnell zugelassen, der große Schosun Bazar zeugt von dem Überangebot an Waren. Kaum Bettler, aber Devisentauschangebote an allen Ecken, in der Hand die Plastiktüte voller Geldscheine. Laut Gesetz strafbar, trotzdem Alltag. Auch wir tauschen hier unser Geld. Schüler fallen durch die einheitliche Schulkleidung auf: Hemd/Bluse weiß, Hose/kurzer Rock schwarz. Schulen und Krankenhäuser sind kostenlos. Als Hauptstadt eines moslemisches Landes fällt Taschkent nicht auf, auch der gern propagierte Polizeistaat ist im Stadtbild nicht ersichtlich. Polizisten finden wir an den Eingängen der Metrostationen, unsere Taschen werden durchsucht, die Kopien unsere Pässe werden begutachtet, es gab Anschläge.

Polizeikontrolle am Metroeingang

Polizeikontrolle am Metroeingang

Polizisten dürfen nicht fotografiert werden, ich frage einen, er sagt „nelsja“ und lässt mich dann doch ein Foto schießen. Abgesehen vom Schulzwang, der besonders Kinder ärmerer Bevölkerungsschichten aus dem familiären Geschäft in die Schulen holt, bekomme ich in den fünf Tagen den Eindruck von einer freien, stark säkularisierten Gesellschaft, ein weiterer Tigerstaat, der sich erfolgreich, wenn auch mit teilweise autoritären und fragwürdigen Methoden den weltwirtschaftlichen Profitinteressen verweigert. Eine stabile, sozial verantwortliche Gesellschaft, die auch ohne westliches, oder russisches Wertesystem funktioniert. Akmal sagt dazu nur: „Russland? Das schaut sich doch bei uns ab, wie man einen Sozialstaat aufbaut.“

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Rahbar – das H ist stumm http://www.hntrlnd.de/?p=893 http://www.hntrlnd.de/?p=893#comments Sun, 25 May 2014 18:26:39 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=893 Ein guter Koch und Schnapsbrenner

Ein guter Koch und Schnapsbrenner

Rahbar wohnt in einem Dorf am Rande Bakus in Aserbaidschan, ist 52 Jahre alt und mag Blumen. Seinen selbst gebrannten Schnaps, den er aus den Früchten seines eigenen Gartens brennt, schenkt er uns mit den Worten ein: „Wenn ihr zu viel davon trinkt und ihr ins Krankenhaus kommt, gibt’s Ärger mit der Polizei!“ Rahbar war mal Englischlehrer, obwohl sein Wortschatz ihn doch eher als schlechten Schüler ausweist. Für diese Arbeit zahlte man ihm 400 Dollar im Monat, weshalb er seinen Job aufgab und nun weit draußen für das dreifache Salär in einer unterentwickelten Region auf Geheiß einer NGO, deren Arbeit zu einem Großteil durch die EU finanziert wird, nachhaltige Bildungsprojekte aufbaut und dauerhafte Infrastrukturen schafft. Dafür und davon hat er sich einen schönen Hyundai gekauft, der einen erstaunlichen Pflegezustand aufweist. Die Kinder sind aus dem Haus, der Sohn als Arzt in der Schweiz, die Tochter hat gerade ihren Master gemacht. Seine Frau arbeitet in Afghanistan und ist fast nie zuhause. Ob er Angst um sie hat? Nein, warum denn? Sie wird doch von der UNO beschützt. Wie viele andere Höfe in dieser Gegend schmückt auch seinen Hof ein neues Haus, zwei Stockwerke, viel Platz, Wasserdruck und Voltzahl sehr zufriedenstellend, Holzfußboden, Souvenirs aus allen Teilen der Welt, meist aus Afrika, so wie die Uhr mit den Giraffen oder der Schmuckteller aus Kenia in der Vitrine neben dem Bleiglas aus Paris.

Rahbar mag Blumen, Blumen mögen Rahbar

Rahbar mag Blumen, Blumen mögen Rahbar

Im zweiten, älteren und kleineren Haus wohnt sein Bruder mit seiner Frau und zwei Söhnen, er hat spät geheiratet und arbeitet nicht. In Rahbars arbeitsbedingter Abwesenheit kümmert er sich um Haus, Hof, den Hund und die drei Enten, gießt die Blumen und repariert hier und da was. Seine Söhne, einer fünf, einer zwei Jahre alt, spielen mit uns Fußball, ohne dass wir uns verständigen können, aber für „Ronaldo“, „Schweinsteiger“ und „Gol!“ benötigt es keine Sprache. Seine Frau ist selten zu sehen. Manchmal sehe ich noch eine weitere Frau auf dem Hof, wer sie ist, was sie macht und warum sie so skeptisch schaut, mag ich nicht ergründen.

Einer gegen zwei ist unfair

Einer gegen zwei ist unfair

Rahbar kommt ursprünglich aus Karabach, einer bis heute von Armenien annektierten Region. Der Versuch, sich über den Genozid an den Armeniern zu unterhalten, beginnt mit der Aussage, der große Bruder Türkei wäre den Aserbaidschanern zur Hilfe geeilt und hätte schließlich die Armenier gestoppt, als sie vor Baku standen und wird beendet er mit der Aussage, er sei Englisch- und kein Geschichtslehrer. Dabei nehmen wir in den Gesprächen Rahbar als einen aufgeschlossenen Weltbürger war, so kann er auch die Form der Demokratie, wie sie sich in Aserbaidschan darstellt, recht genau und augenzwinkernd einschätzen. Allerdings ist seine eigene Geschichte, die ihn mit den Armeniern verbindet oder besser gesagt von ihnen trennt, eine andere. Sie beginnt Ende der Achtziger und endet Anfang der Neunziger mit der Vertreibung der aserbaidschanischen Minderheit durch armenische Milizen, wieder starben Menschen. Sein Heimatdorf kann Rahbar nicht mehr besuchen. Damit scheint er sich allerdings abgefunden zu haben, denn es geht ihm augenscheinlich gut, da wo er ist. Kein Grund, über Politik zu sprechen oder im Dreck zu wühlen. Lieber sich und seinen Gästen noch einen Schnaps eingießen, Schaschlik essen und sich des Lebens freuen.

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Wozu Baku? http://www.hntrlnd.de/?p=874 http://www.hntrlnd.de/?p=874#comments Sat, 24 May 2014 15:59:21 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=874 Eindeutig noch keine Saison

Eindeutig noch keine Saison

Dieser Präsident, dessen Namen ich mir nicht merken will (obwohl es der gleiche Nachname sein wird wie der seines Vaters, welcher bereits die AsSSR regierte und dann, wie sein Sohn, demokratisch immer wieder gewählt wurde – wen interessiert der Apparat dahinter?) grinst und winkt aus allen Ecken. Zumindest seine Person weckt den Anschein einer ständigen Dauerfröhlichkeit, die Aserbaidschan beseelt. Das Umland, welches der auf unserer Reise erste klimatisierte Zug durchfährt, kann man wohl Steppe nennen. Abgesehen davon einige Raubvögel und eingemauerte Bauernhöfe. Die Dorfbar an einem der Bahnhöfe ist auch Nachts recht gut besucht, nur Männer.

Und ständig grüßt der Präsident

Und ständig grüßt der Präsident

Schon bei Zugeinfahrt stellen wir fest, Baku ist auf Hochglanz poliert. Später beim Besuch der Stadt: Die Hafenpromenade ist weitläufig. Nicht mehr das übliche Bild von Kiosken mit dem Warenangebot, welches sich alle 100 Meter wiederholt und an welches wir uns in Georgien gewöhnt hatten. Stattdessen vollklimatisierte Einkaufstempel mit KFC und Mc Donalds. Dazwischen die üblichen hochpreisigen Klamotten- und Parfümläden. Straßenunterführungen für Fußgänger mit Rolltreppen und Förderband (Siemens-Nixdorf).

Schöne neue Investorenwelt

Schöne neue Investorenwelt

In der Altstadt wurden sämtliche relevanten Stätten mit Museen ausgestattet, die keine historische Information auslassen. Auf transparenten OLED- Displays werden 3D-Grafiken angezeigt, die jedes historische Gebäude oder Utensil animieren, per Touch werden Detailinformationen angezeigt. Lichtdesigner haben sich damit beschäftigt, wie jede Ecke des frisch sanierten Palastes und des Maiden-Towers interessanter erscheinen, als es der originale Stein hergeben würde. Interaktiver Info-Lifestyle für zwei Euro Eintritt. Kurz vor unserer Abreise sah ich eine Reportage über Aserbaidschan auf NTV – „Das Land des Feuers“. Viel Gutes wurde eine Stunde lang berichtet, europafreundlich, ein säkularisiertes, muslimisches Land. Die Feuer des ständig ausströmenden Gases wurden gezeigt, ein wenig Folklore gut inszeniert. Kein „Aber“, nicht Negatives, Investoren müssen in dieses Land kommen. Mich beschäftigte die Frage, ob Staaten sich Reportagen auf NTV finanzieren können. Der Gedanke liegt heute nicht ferner, denn in den vier Tagen Aserbaidschan habe ich auf keiner der vielen Werbetafeln etwas Anderes entdeckt, als das mich angrinsende Konterfei des Präsidenten, oder einen Hinweis auf die tolle Stadt, in welcher doch jeder Investor glücklich werden könne. Vielleicht sollte sich Aserbaidschan mal zwischendurch Coca-Cola Werbung einkaufen, damit es nicht so auffällt. Ich bin in einem Staat mit einem enormen Werbeetat. Unser Gastgeber lächelt darüber: „Seht ihr, wie der Präsident aussieht? Als würde er sagen: ‘Ich zeigs euch allen’“.

Vorstadtteiler

Vorstadtteiler

Die Infrastruktur hat sich stark verändert, Straßen wurden zu großen Autobahnen ausgebaut, die auch die Vorstädte durchziehen und zerteilen. Unser Gastgeber war Lehrer, arbeitet jetzt für eine NGO und verdient das dreifache. „Aber Lehrer, Ärzte und Polizei gehören doch auch zur Infrastruktur dazu?“ frage ich, „Warum werden denen keine höheren Gehälter gezahlt?“ „Weiß ich nicht, naja die Polizisten haben es besser, deren Lohn ist stark gestiegen.“

Kein Kafee am Strand

Erstmal kein Kaffee am Strand

Östlich von Baku werden jetzt im Mai die Strände für die Saison vorbereitet. Ganze Strandzeilen werden mit Holzhütten bebaut. Dabei scheint man sich Strandstücke mieten zu können, um diese dann für die Gäste herzurichten. Der Müll der letzten Saison mischt sich zwischen den Bauarbeiten mit der angeschwemmten Plastik. Berge von PVC werden durch die schmalen Straßen zwischen den hohen Mauern der hinter dem Strand liegenden Grundstücke getrieben. Es muss noch viel entsorgt werden, bis die neue Saison beginnt.

Unser Meer soll sauber bleiben - jedenfalls an der Hafenpromenade

Unser Meer soll sauber bleiben – jedenfalls an der Hafenpromenade

Dagegen stört keine Plastikflasche das Bakuer Stadtbild. Ein Boot fährt vor der Promenade, zwei Arbeiter hängen über der Reling und sammeln Müll von der Wasseroberfläche. In der Stadt gibt es Mülltrennung. Ich muss mich fast überwinden, um den nächsten Zigarettenstummel mit meinen Schuhen auszutreten und liegenzulassen. Junge Männer sitzen in geschneiderten Jeans hinter dem Lenkrad ihrer deutschen Luxuskarossen mit V-förmig angeordnetem Motor. Unser Gastgeber sagt: „Das sind die Söhne der Minister und der Freunde der Minister.“. Er grinst dabei. Dann setzen wir uns in seinen sechs Jahre alten Hyundai und fahren 20 Kilometer raus aus der Stadt zu seinem riesigen Eigenheim.

Warum Baku?

Wozu Baku?

Die zweite Etage gehört uns. Es gibt kostenlos viel zu hochprozentigen Samagon, hergestellt aus den Weinreben, die den Garten überdachen. Hier kann man zwei Tage Ferien machen, das „Magasin“ bietet die nötigsten Lebensmittel, keine Importware. Einen Opa treffen wir regelmäßig auf der Dorfstraße. Er sitzt auf einem Pferdewagen und grüßt uns lachend. Da es kein Pferd gibt, hat er eine in der Türkei sehr verbreitete Erfindung davor gespannt: Ein Rad, ein Lenker und ein kleiner Motor dazwischen. Der Umstieg ist bestimmt nicht schwer gefallen. Warum sollte ich bei unserem kurzen Aufenthalt in Aserbaidschan hier weg wollen?

Irgendwann wird er wieder fahren, auch ohne Maßanzug hinter dem Lenkrad.

Irgendwann wird er wieder fahren, auch ohne Maßanzug hinter dem Lenkrad.

Das piefige Baku kann ruhig die Morgenstunden vor dem Schminkspiegel verbringen, deshalb muss ich es mir nicht nochmal ansehen wollen.

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Die alte Frau und das Meer http://www.hntrlnd.de/?p=721 http://www.hntrlnd.de/?p=721#comments Wed, 07 May 2014 07:09:30 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=721 Die Gartenpflanzen sind  Jahrzehnte, der Beton ist höchsten fünf Jahre alt.

Die Gartenpflanzen sind Jahrzehnte, der Beton ist höchsten fünf Jahre alt.

Unser Gastgeber André arbeitet im Management des “Bridge Resort”, einem frisch für die Olympiade gebauten Hotelkomplex direkt neben dem Gelände der Olympischen Spiele. In Sicht- und Rufweite zur abchasischen Grenze wurde für das riesige Areal, das wir alle aus den Livebildern des Februars kennen, eine ganze Sumpflandschaft trockengelegt, zuvor gab es nur an vereinzelt erhöhten Stellen kleinere Fischerdörfer. Heute erheben sich hier ganze Berge aus Bettenburgen, alles ist eingezäunt – durch große Teile der Hotelstadt und des olympischen Dorfs dürfen wir nicht spazieren, die Swimming Pools werden sauber gehalten für Gäste, die es nicht mehr oder noch nicht gibt.

Eingezäunte Swimmingpools und Bettenburgen

Eingezäunte Swimmingpools und Bettenburgen

Und so ist auch das Bridge Resort eingezäunt. Die Hotelhäuser weisen mit Namen wie „Sydney“ oder „New York“ auf ihre olympische Vergangenheit hin. Das Hotel ist schick und funktional, hat zu dieser Jahreszeit etwas wenig Gäste und etwas mehr als genügend Personal. Eine große russische Baufirma errichtete fast die Hälfte der Häuser um den Olympiapark, sie ist nun Eigentümer von Leerstand bis auf einige Inseln, zu denen auch das Bridge Resort gehört – hier und da werden gerade Konzepte einer Nutzung der Gelände  erarbeitet, unabhängig von künftigen Hochzeiten wie Formel 1 und Fußball-WM 2018.

Gartenzäune zwischen Meer und Ressort

Gartenzäune zwischen Meer und Ressort

Vom Hotel sind es etwa 100 Meter hin zu Betondamm, Steinstrand und Schwarzem Meer. Dazwischen ein kurzer Abschnitt, Blechzäune, zwei Meter hoch, mit der Kopie eines Holzfunierplastikimitats beklebt. Dahinter Höfe und Häuser des Dorfes, dass schon vor Olympia existierte. Irgendwo ein Durchgang zwischen Zäunen, ein schmaler Asphaltweg führt zwischen weiteren Zäunen durch das Dorf. Dort, wo die Straße parallel zur Promenade abbiegt, steht ein überdachtes Metallgestell an einem kleinen Zweiraumhaus. An der Wand ein Kühlschrank, ein Regal, halbvoll mit Tütensuppen, Keksen, Trockenfisch und den üblichen, weltweit bekannten Getränken. Eine junger Straßenhund tappst um einen Knochen herum, den er sich vorgenommen hat zu zerkauen. Er schiebt den Knochen und sich zwischen zwei Bänke und einen Tisch, die unter dem Blechdach aufgestellt sind. Eine ältere Frau räumt irgendwas auf. Ich frage sie, ob wir uns hinsetzen und einen Tee trinken können. „Ja natürlich, ich mache euch einen Tee,“ sagt sie lächelnd, „aber ihr braucht Petschenie zum Tee.“ Sie zeigt auf die drei verschiedenen Sorten von Keksen. „Njet, tolko Tschai.“ antworte ich und sehe dabei Dirk, der schnell mal Hunger hat. „Ili, kakoi Petschene u was jest?“

"Das ist nicht mein Laden."

“Das ist nicht mein Laden.”

„Hier, das wollt ihr bestimmt.“ sagt sie, öffnet den Kühlschrank, holt eine mit süßer Sahne und Marmelade gefüllte Biskuitrolle aus der Verpackung und schneidet sie für uns in Scheiben. „Wartet, ich mache euch den Tee. Mit Zitrone und Zucker?“, dann geht sie in den hinteren Raum.
Als sie mit dem Tee zurückkommt, frage ich sie, wie lange sie hier schon wohnt. „Naja, so vierzig Jahre da drüben,“ sagt sie und zeigt auf ein Haus, dessen rotes Wellblechdach über den beschriebenen Zaun hervorguckt, „in einer Kommunalnaja.“ „Und wie lange haben Sie den Laden?“ „Das ist nicht mein Laden“ grinst sie. „Wie ist es denn für Sie, wenn hier die neuen Häuser entstehen?“

Blechdächer und Asphalt

Blechdächer und Asphalt

„Naja, wie soll es sein. Die Straße hier“ – sie zeigt auf den Asphalt – „haben sie uns schön gemacht, vorher konnte man hier kaum noch langlaufen und wir haben ein neues Dach bekommen, es hat doch schon jahrelang bei uns durchgeregnet. Das ist eine arme Kommunalnaja, drei Familien teilen sich eine Küche und eine Toilette gibt es nur auf dem Hof.“ „Wurde das auch geändert?“ „Nein, aber das Dach ist jetzt neu.“ „Und die Zäune? Früher konnten Sie doch bestimmt im Hof sitzen und auf das Meer gucken?“ „Ja, aber das Meer ist doch immer noch da?“ fragt sie verwundert. „Und jetzt gibt es einen Damm, keine Überschwemmungen mehr.“ dann hält sie kurz inne „Aber hier wird bestimmt auch bald alles abgerissen.“ „Wissen Sie das schon?“ „Es wird geredet. Warum sollte hier nicht auch alles schön gemacht werden?“ „Und wohin gehe Sie dann?“ Sie zuckt mit den Schultern, lächelt dabei weiter. „Denken Sie, die russische Gesellschaft wird Sie weiter unterstützen?“ „Ich weiß es nicht“ sagt sie.

Gleich bekleckert er sich

Gleich bekleckert er sich

Dirk rutscht das Glas Tee aus der Hand, es kippt nicht, aber verschüttet den Tee teilweise auf seine Hose. Sie ist erschrockener als wir, holt ein Handtuch und sagt: „Das ist ja nicht so schlimm.“ „Nein, ist es nicht“ sagt Dirk, ihm passiere das häufiger. „Der Tee war doch nicht mehr so heiß? Das ist ja nicht so schlimm.“ Sie verhält sich, als hätte sie den Tee auf Dirk gekippt, beruhigt sich erst, als er an seiner Hose herumtupft. Natürlich frage ich sie, ob ich ein Foto von ihr und ihrem Laden machen kann. „Na gut, machen Sie mal.“ Sie setzt sich hinter den Trockenfisch. Ich zeige ihr das Foto im Display. „Aber das können Sie mir nicht geben?“ fragt sie. „Nein,“ sage ich „das kann ich hier nicht auf Papier machen.“ Dann halte ich kurz inne. „Aber ein Freund arbeitet nur hundert Meter entfernt in dem Hotel, ich werde ihn fragen, ob er es ausdrucken und ihnen vorbeibringen kann.“ „Nein, das ist doch zu viel Aufwand.“ „Ist es nicht, die Viertelstunde kann er sich bestimmt nehmen. Naja, vielleicht bringt er Ihnen ja das Bild vorbei, vielleicht aber auch nicht.“ Wir haben den Tee getrunken, die Biskuitrolle ist aufgegessen. Also verabschieden wir uns und schlendern weiter durchs Dorf. Links und rechts der Dorfstraße werden wir eingezäunt von mit Plastikfolie beklebtem Blech.

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Russlands Riviera http://www.hntrlnd.de/?p=709 http://www.hntrlnd.de/?p=709#comments Tue, 06 May 2014 05:24:58 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=709 Gesellschaftliches System zur Klassifizierung von Objekten der touristischen Industrie

Gesellschaftliches System zur Klassifizierung von Objekten der touristischen Industrie

Vor 27 Jahren legte mein Opa fest, daß er die Fotos entwickeln würde. Das sei nötig, denn der Filmtransport hätte nicht richtig funktioniert; wenn man die Filme in die Entwicklung geben würde, kämen garantiert keine brauchbaren Bilder heraus. Im Hotel “Tschemschuschina” wurden die Filme unter der Bettdecke aus der Kamera genommen und lichtsicher verpackt. Am Ende gab es kein einziges Foto, denn alle Filme waren doch vor der Entwicklung belichtet.
Heute fragt die digitale Fotografie nicht nach Filmentwicklung. Die Impression versucht sich sofort im digitalen Speicher zu bebildern.

Vorzeigearchitektur der Achtziger

Vorzeigearchitektur der Achtziger

Das Hotel „Tschemtschuschina“, also „Perle“, gibt es immer noch. Ich bin mir sicher, dass die vier Sterne neben dem Logo schon zu Intourist- Zeiten repräsentativ dazugehörten, aber sie sagen wohl nichts über Qualität aus. Denn wenn man erst mal piepend durch die scheinbar unbewachten Metalldetektoren ins Innere des Hotelkomplexes gelangt ist, erscheint der Raum immer noch in sozialistischer 80er-Jahre- Architektur. Ich versuche, mich zu erinnern, hatte immer vermutetet, die Größe des Hauses hätte mich derart beeindruckt, weil ich damals kleiner Jungpionier war.

"Perle" - Sternstunde des UdSSR-Tourismus

“Perle” – Sternstunde des UdSSR-Tourismus

Aber der Eindruck bleibt, das Haus ist riesig und hässlich, die Ein- und Ausgänge sind immer noch im russischen verkupferten Design, das ich aus den Achtzigern kenne, die typische Farbe jeder damaligen Metrostationstür.
Die Eingangshalle ist in ihren Dimensionen trotzdem stark geschrumpft. Eingemietete Läden bilden eine kleine Stadt innerhalb des riesigen Hotelkomplexes.
Sochi ist bereits Anfang Mai gut besucht, im Sommer werden sich Touristenmassen von den Hotels zum Strand schlängeln, jetzt sind die Promenaden und Parks noch begehbar genug zum Schlendern und Staunen. Die Sonne scheint bereits heiß und heftig.

Dazwischen manchmal der Blick aufs Meer

Dazwischen manchmal der Blick aufs Meer

Die Promenade hat ihre Weitläufigkeit eingebüßt. Das Kleingewerbe mit seinen Läden hat sie zu einer kilometerlangen Einkaufszeile gemacht. Getränke, Eis, Souvenirs (sehr viele Olympia-Reste), Fußputzerfischsessions, Schießbuden, Flipflops, Fastfood, Massage, bekannte Touristenfallen und neue Geschäftsideen drängen sich aneinander und stellen Überfluss dar. Die Preise sind europäisch minus zehn Prozent.
Mitsamt den Hotel- und Ressortneubauten ist Sochi verwinkelt und kleinteilig geworden. Dabei ragen die Bettenhäuser in den Himmel. Lenin wird an allen Seiten von werbebeschilderten Wolkenkratzern bewacht.

Das Lenindenkmal und seine Bewacher

Sochis Lenindenkmal und seine Bewacher aus Stahlbeton

Zwar werden auch die Parks vom Neubau bedrängt, ihre subtropische Schönheit haben sie dabei nicht verloren. Licht und Schatten laden im Grün der Platanen und Palmen zum Hinsetzen und Gucken, oder Dösen ein, der verspiegelglaste Horizont kann schnell ignoriert werden.
Kann ich durch Sochi schlendern und mich erinnern? Nein, das kann ich nicht. Das ein Vierteljahrhundert alte Bild gibt es nicht mehr. Wie in jeder russischen Boomtown wird das Alte vom Neuen eingebaut und überbaut, bis es verschwunden ist. Wenn ich mich nicht mehr erinnern will, finde ich eine auf Massentourismus spezialisierte Idylle vor, in der sogar ich mir Pauschalurlaub zwischen Spa und Steinstrand vorstellen könnte.

Parkidylle, Spiegelglas, Kunstbisnes

Parkidylle, Spiegelglas, Kunstbisnes

Mein Opa war Ökonom und kannte die realen Zahlen. Ich vermute, dass er nach Sochi den irrationalen Gedanken hatte, sein Sozialismus hätte doch eine Chance, zu schön war es hier. Kurz nach dem Sochi-Urlaub ist er gestorben. Völlig überarbeitet und zu viel geraucht hat er auch.
Nach dem brachialen Urkapitalismus der Neunziger fängt der neue russisch geplante Kapitalismus an zu funktionieren. Die Ruinoks sind sauberpoliert und voll mit Waren und Lebensmitteln aus allen Teilen des Riesenlandes, das Angebot ist beeindruckend. In Sochi und Adler gibt es keine offensichtliche Armut. Bestimmt staatlich forciert, denn hier soll Urlaub gemacht werden, ohne Sorge. Die ganze Welt kann in den überdimensionierten Bettenstädten um Sochi herum einquartiert werden. An den teilweise künstlichen Steinstränden wird in diesem Sommer über hunderte Kilometer hinweg sonnengebadet. Alles ist da, Mangel wird aus dem Wörterbuch gestrichen. Schöne neue Überflusswelt.

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Kharkov- Ukraine- Welt: Ein Essay http://www.hntrlnd.de/?p=522 http://www.hntrlnd.de/?p=522#comments Fri, 25 Apr 2014 16:31:03 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=522 Lenin und seine Bewacher

Lenin und seine Bewacher

Das Verblüffende an den russischen Separatisten ist, dass man sie im Stadtbild nicht wahrnimmt. Wären da nicht die zehn Omas und Opas, die mit ihrer Fahne der russischen Armee vor dem Lenindenkmal sitzen. Für wenige Stunden ist ein weiterer Stand aufgebaut, dessen Fahnen das Orange-Schwarz gestrichene mit dem bekannten Rot ergänzen. Rechts die Fahne der UdSSR, links die Fahne der ukrainischen Arbeiterpartei. Neben Hammer und Sichel wird diese um den Namen der Partei ergänzt.
Wir setzen uns etwas abseits auf die Sockeltreppe und trinken zuvor erworbenen Kaffee. Die Sonne wärmt den Rücken.
An dem Stand erklingen die Internationale und andere bekannte Kampflieder. Ein Opa mit Schirmmütze wacht über die Technik aus den Achtzigern. Ein anderer, dem Aussehen nach eine Mischung aus Schachweltmeiter, Leiter einer UdSSR Reiszweckenfabrik und arbeitslosem Professor, dringt gerade als Ein-Mann-Propagandaministerium in die Köpfe zweier wahrscheinlich aus Versehen vorbeigelaufender Jugendlicher ein. Sie hören höflich zu, ihre Gestik vermittelt aber starke Fluchtgedanken.

Bewacher s chauen auf einen großen leeren Platz

Bewacher schauen auf einen großen leeren Platz

Kharkov ist eine Studentenstadt. Man sieht ihr sofort ihre Internationalität an. Selbst der extrovertierteste Australier könnte hier keine besondere Aufmersamkeit erregen. Angst vor Fremdem muss in dieser Stadt zu einer aussterbenden Emotion werden.
Zwar ist die russische Grenze nicht weit entfernt und Russisch ist eindeutig die Hauptumgangssprache, trotzdem unterstelle ich der Stadt eine Immunität gegen Extremismus, die Vielfalt ist zu groß. Der eine oder andere alte Ordenträger wird ergänzen wollen, dass Kharkov erst durch seinen Aufbau in der Sowjetunion die monumentale Schönheit erhalten hat, dem möchte ich nicht wiedersprechen. Die Freiheit, die sich im Stadtleben wiederspiegelt, die Vielfalt an Läden und Gütern, die modernisierten Häuser und Parks sind aber Errungenschaften der letzten 24 Jahre. Nostalgie und Traditionalismus können dieses offensichtliche Bild nicht widerlegen.

Premier Hotels

Premier Hotels

Froh sind wir, dass wir bei unserem dritten Stop in der Ukraine endlich den ersten Lenin gefunden haben. An dieser Stelle zitiere ich eine ukrainischstämmige Freundin: “Schade finde ich nur, dass sie Lenin überall entfernen. Ich mag Deduschka Lenin.”
Hier könnte man vermarktbaren Kult erahnen, Hagen Rether formulierte es mal treffend: “Che Guevara? Ist das nicht der, der den Latte Machiato erfunden hat?”
Der sozialistische Versuch, oder Alptraum, kommt auf die Sichtweise an, ist längt ohne historischen Bezug zur Modemarke geworden, kurzzeitig hip, weil nicht Mainstream, dann bereits Motiv in der Raucherecke des Schulhofs, danach die Absatzschwäche des Modelabels, eine Idee hat sich verkauft, keine Nachfrage mehr.
Wir werden auch in Russland sehen, wie die Suche nach neuen Absatzmärkten mit ihren Großkonzernen und Werbebotschaften das Leben bunter und gierig nach neuestem Klimbim gemacht hat. Den Anstieg der Lebensqualität werden wir wahrnehmen, den harten Kampf des Mittelstandes um sich selbst, das egoistische Kleinbürgerliche als Lebensziel, nicht mehr drangsaliert vom ideologischen Überbau, aber in einem Staat mit einem unterbezahlten Sozialsystem. Putin wird nur kurzzeitig alte Strukturen für seinen Machtausbau nutzen können. Und wenn ihr mich fragt, Europa sollte mal schön die Schnauze halten und aufhören, mit sinnlosen Sanktionen zu drohen. Eine Gesellschaft, für deren Festhalten an der Idee eines Wirtschaftwachstums Näherinnen unter zusammenbrechenden Fabrikhallen begraben werden, deren Müllentsorgung in anderen Regionen die Lebenserwartung derer, die dort versuchen mensch zu sein, auf kaum erwachsen – schon tot senkt, um nur zwei Beispiele ihres Schmarotzertums zu benennen, erstickt bei jeder Menschenrechtspredigt sofort an ihrer Doppelmoral.

Ruhm den Helden des Krieges 1941 - 1945

Ruhm den Helden des Krieges 1941 – 1945

In der Ukraine gibt es nun wieder Kriegsanleihen. Man kann auf verschiedensten Wegen und mit kleinen Beiträgen die Armee unterstützen. Der Militarismus ist auf dem Vormarsch.
Die Werbung zeigt eine zu Tränen gerührte Mutter mit Proviantkörbchen hinter dem Kasernenzaun, die ihrem Sohn beim Exerzieren zuguckt. Millionen wurden bereits mit solchen Kampagnen in den Verteidigungshaushalt gespült. Es wird wohl nicht lange dauern, bis nicht nur die Soldaten wieder einen Sold bekommen, sondern auch schöne neue Leopard-II-Panzer zur Verteidigung der Souveränität eingekauft werden können.
Wir spazieren mit Kosko, einem Bekannten aus Kharkov, durch die Stadt und er berichtet stolz, dass er regelmäßig ein paar Cent mehr für eine sms bezahlt, um die Armee zu unterstützen. “Warum?” frage ich “Glaubst Du wirklich, Eure Armee hätte eine Chance gegen die zweitgrößte Militärmacht der Welt?” “Nein” “Na dann feiert doch Eure erneuerte Freiheit und sagt den Russen, na los, schießt uns doch zusammen, wir haben sowieso keine Chance.” “Du verstehst das nicht.” sagt Kosko und da hat er recht, ich verstehe es nicht. Ich habe ja auch keine Ahnung vom Alltag in einem System in welchem die Gewaltentrennung kurz vor dem Zusammenbrechen ist, weil sie nicht mehr finanziert werden kann.

Kharkover Stadtleben

Kharkover Stadtleben

Wir spazieren also durch Kharkov und sind begeistert von der Stadt. Innerhalb von 300 Jahren wurde an ein paar kleinen Flüsschen eine Zweimillionenstadt in die Landschaft gemeißelt. Wenn man hinter den sowjetischen Prunkbauten und Plätzen in eine Seitenstraße einbiegt, entdeckt man urbanes Leben in Vierteln, die von Gründerbauten und Bauhausarchitektur geprägt sind. Modern ist die Stadt und sauber. Der Blick schweift schnell ab zu den Passantinnen, die vielleicht gerade auf dem Weg zur Uni sind, oder zum nächsten Taschengeschäft. Das Lenindenkmal wird weiterhin von zehn Rentnern bewacht. In Slaviansk wurden die ersten prorussischen Besatzer, also Terroristen, von Spezialeinheiten erschossen. Ein proukrainischer Checkpoint in Odessa explodiert. Irgendwo fliegt Jemandem der Hut davon. Angst macht Märkte stabiler und festigt das Oligarchentum von weltweit agierenden, undurchsichtigen Konzernstrukturen, deren wichtigstes Lebensziel eine zufriedene Aktionärsversammlung ist. Wenn dieses Ziel nicht erreicht werden kann, muss man erstmal wieder richtig Schotter machen. Das  klappt am Besten mit der Etablierung eines Feindes und der sinnlosen Produktion von Wehrhaftigkeit. Es gibt keine neue Welt in einem alten Wertesystem.

Kharkov- Ukraine- Welt- Eine Richtigstellung

Nacht in Kharkov

Nacht in Kharkov

Eins war klar – wir würden in dieser Stadt und im Bekanntenkreis keine pro-russische Meinung zu hören bekommen. Eins war mir nicht klar – selbst der größte Peacer unter ihnen würde zur Waffe greifen, wenn es Krieg gäbe. Und er würde auf russische Soldaten schießen, selbst wenn er keine Chance hat.
Aber fangen wir am Ende an: Kosko hat uns nach einem langen Abend ein Taxi bereitgestellt, das uns nach Hause bringt. Ich frage den Taxifahrer auf Russisch, wie der Job so läuft, er sagt, er tut das nur nebenbei, eigentlich bemalt er Dinge, Motorräder und solche Sachen, er rutscht ins Englische. “Paintbrush?” frage ich “Nein, bemalen” sagt er, ich frage nicht weiter nach. “Aber eins ist klar,” redet er weiter, als wenn er die Frage geahnt hätte “ich bin der Erste, der seine Waffe benutzt, wenn sie weiter unser Land angreifen. Sie haben sich einfach die Krim genommen, jeden Sommer bin ich dort gewesen, mein Land, und ich konnte nichts machen.” “Warum solltest Du auch,” frage ich ” Du hättest doch keine Chance?” “Aber ich würde sie erschießen, solange ich kann, sie haben kein Recht, mir MEIN Land wegzunehmen. Ich fahre Taxi, um mir eine Automatische kaufen zu können!”
Er redet nur russisch, wenn er im Englischen nicht weiterkommt, mitten in Kharkov.
“Gibt es denn keine anderen Möglichkeiten” kontere ich, “das ist doch Selbstmord?” “Ist mir egal, mein Land ist kein Bruder der Russen.”
Ich wäre erschüttert, wenn diese Stimmung nicht den ganzen Abend begleitet hätte. Als er uns absetzt, bedanke ich mich für das Gespräch, boxe ihn leicht an die Schulter dabei, er reicht mir die Hand und drückt sie fest.

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